Artivism ist keine Bewegung im eigentlichen Sinne. Es ist eher eine Haltung, eine Praxis in den fruchtbaren Grenzbereichen zwischen Kunst und Aktivismus. Artivism entsteht, wenn Kreativität und Widerstand ineinander fallen. Es ist das, was passiert, wenn unsere politischen Aktionen genauso schön werden wie Gedichte und genauso effektiv wie ein perfekt gestaltetes Werkzeug. Artivism ist die Clown Army (Clownsarmee), die die Einsatzschilder der Polizei küsst, um diese zurückzudrängen; es sind die Yes Men, die heimlich die Weltmedien infiltrieren, indem sie vorgeben, Konzernsprecher zu sein; und es ist das Brandalism-Kollektiv, das Hunderte von Anzeigentafeln in Bushäuschen hackt und Werbung durch radikale Botschaften ersetzt. Dabei geht es keineswegs darum, politische Kunst zu machen oder Kunst über ein Thema, wie zum Beispiel eine Performance über die Krise von Geflüchteten oder ein Video über einen Aufstand. Es geht nicht darum, neue Sichtweisen auf die Welt zu zeigen, sondern darum, sie zu verändern. Um jegliche Repräsentation zu verweigern, wählt Artivism die direkte Aktion.
Die Befürworter_innen direkter Aktionen gehen davon aus, dass man Dinge am besten ändern kann, indem man selbst eingreift, anstatt andere dazu aufzufordern. Dies ist das genaue Gegenteil von Lobbyarbeit und Protestmärschen. Bei direkten Aktionen geht es darum, die Welt gemeinsam im Hier und Jetzt zu verändern. Das Allerschönste dabei – also das ästhetische Ziel – ist es, zu gewinnen, in diesem Fall also das Überleben des lebendigen Waldes und seines Ökosystems in all seiner Fülle zu sichern. So verbindet Artivism das Schöne mit dem Nützlichen.
Artivism verwendet soziale Bewegungen als Gestaltungsmaterial. Deren Aktionsformen und Alternativen können unsere kollektive Vorstellungswelt verändern und neu erfinden. Genauso wie Künstler_innen mit Holz oder Farbe arbeiten, kann Artivism zum Beispiel mit Plänen für eine direkte Aktion zur Stilllegung eines Kohletagebaus arbeiten und Ideen dazu entwickeln, wie man sie kraftvoller und theatralischer machen kann.
Die Strategien, die Artivist_innen nutzen, hängen von dem politischen Kontext ihrer Arbeit ab und sind zu zahlreich, um hier genannt zu werden. Ein wunderbares Handbuch plus Webseite zu angewandten Taktiken, Theorien und Prinzipien ist „Beautiful Trouble” (Boyd 2010)". Das Buch empfiehlt zum Beispiel als Hauptstrategie für Menschen, die unter repressiven Regimes oder Notstandsgesetzen leben, unter denen abweichende Meinungen verboten sind, Proteste so zu gestalten, dass sie nicht wie Proteste aussehen. Auch Humor ist häufig ein zentrales Element von Artivism-Taktiken.
Eine andere verbreitete Taktik ist das Umkonstruieren von Dingen. Ausgangspunkt ist die Hacker-Frage: „Was kann dieses Ding tun?“ Das bedeutet, ein alltägliches Objekt zu „hacken“ und es in eine Maschine des Widerstands zu verwandeln. Kreativität und das Erschaffen neuer Formen brauchen Zeit und Aufmerksamkeit, was angesichts der Dringlichkeit und des Tempos von Aktivismus nicht einfach ist. Allerdings trägt der Geist der Kunst dadurch einen anderen Rhythmus in den Aktivismus hinein, der besser zu den Zielen von Degrowth passt: ein entschleunigter, langsamerer und besser durchdachter Ansatz, der deshalb aber nicht weniger leidenschaftlich ist.
Im Moment fühlt es sich an, als hätten Artivist_innen weniger Bande zu Degrowth geknüpft als zu anderen Bewegungen wie etwa zur Geflüchteten-, Klima-, Anti-Austeritäts- und globalisierungskritischen Bewegung. Warum dies so ist, ist schwierig zu ergründen.
Das Weltklima wie auch das Konzept des Anthropozän sind zurzeit wichtige Themen in der Kunstwelt. Allerdings wird ein Großteil der in diesem Zusammenhang realisierten Projekte in Zusammenarbeit mit einer Wirtschaftselite veranstaltet, die Kultur als billiges Forschungs- und Entwicklungsinstrument und effektive PR-Kampagne für grünen Kapitalismus nutzt.
Business-as-usual-Veranstaltungen lieben es, Kunst als Maske zu benutzen, hinter der große Firmen ihre Verbrechen verstecken und sich ein Flair von moderner Kultiviertheit verleihen können. Mit „artwashing“ bereinigen sie ihre Logos und lassen uns vergessen, dass sie lebendige Gemeinschaften von Menschen und Ökosystemen für Profit zerstören. Eine wichtige Artivism-Strategie ist es hier, Künstler_innen und Institutionen zu kritisieren, die sich in diesem Sinne instrumentalisieren lassen. Das Liberate-Tate-Kollektiv tat dies in Form von atemberaubenden Interventionen im Kunstmuseum, die gegen die Finanzierung durch BP gerichtet waren.
Die Tatsache, dass die Degrowth-Konferenz 2014 neben den wissenschaftlichen und sozialen Strängen auch einen Kunst-Strang beinhaltete, ist ermutigend. Es bedarf mehr solcher Initiativen, sodass „akademische“ Versteinerungen aufgebrochen werden, um kreativere Formen des Wissensaustausches und einen ganzheitlicheren Ansatz zu ermöglichen. Die Lehrmethoden von Artivist_innen sind üblicherweise horizontaler als andere. Sie basieren auf beliebten partizipatorischen Bildungsansätzen, die eher versuchen, das gemeinsame geteilte Wissen weiterzuentwickeln als Wissen von oben nach unten, von den Lehrenden zu den Lernenden, weiterzugeben. Für gewöhnlich gehen Artivist_innen dabei über das reine Sprechen und Zuhören hinaus und arbeiten mit dem Körper, mit Spiel und Materialien und beziehen Kopf, Herz und Hand gleichermaßen mit ein.
Um die Degrowth-Bewegung mit dem Geist von Artivism zusammenzubringen, wäre es wichtig, Workshops oder Labore für transdisziplinäre Lösungen zu bestimmten Themen einzurichten, an denen Künstler_innen beteiligt sind – und zwar nicht als „ästhetische Kommunikator_innen“ von Ideen, sondern als kreative Teilnehmer_innen, die zusammen mit anderen Disziplinen an Lösungen arbeiten.
Dabei ist es entscheidend, Räume zu schaffen, die ein solches kreatives Denken und Spiel als wesentlichen Teil eines Bewegungsprozesses nähren. Es scheint, als hätte Degrowth trotz des manchmal über-akademischen Tons die Kapazität und Sensibilität, um diesen Geist zu verkörpern, da es der Bewegung im Kern um einen Kulturwandel weg von quantitativen hin zu qualitativen Seinsformen geht. Es heißt, Degrowth sei ein Beispiel aktivistischer Wissenschaft. Vielleicht werden wir es eines Tages auch als aktivistische Kunst bezeichnen können.
Ich schreibe als jemand, der in einer holzbeheizten Hütte in einer kleinen Kommune auf einem Biohof in Frankreich lebt, wo Degrowth im Zentrum unserer gemeinsamen Werte steht. Für uns ist Degrowth verbunden mit dem guten Leben, getreu dem französischen Sprichwort „Moins de biens, plus de liens“ – weniger Dinge, mehr Beziehungen. Im vorherrschenden Mainstream wird Degrowth jedoch oft missverstanden als Aufruf zu Selbstkontrolle („Hört auf mit Shoppen, Autofahren, Fliegen etc.!“) und Entbehrung („Hört auf, neue Dinge zu kaufen oder zu wollen!“) oder zur Rückkehr in eine Vergangenheit („Hört auf, fossile Brennstoffe, neue Technologien etc. zu nutzen!“), als das Leben schwer war („Pflanzt euer eigenes Gemüse an, backt euer eigenes Brot, lebt lokal!“) und das Glück rar gesät.
Hinzu kommt, dass Degrowth in den Rahmen eines apokalyptischen Zeitstrahls eingebettet ist, der auf den Kollaps der lebenserhaltenden Systeme des Planeten verweist – nicht gerade die attraktivste Vorstellungswelt sozialer Bewegungen. Solche Karikaturen von Degrowth sind weit entfernt von Konzepten wie Fülle, Freude und Spiel – Konzepten, die häufig Teil künstlerischer Prozesse sind und die der Kapitalismus vereinnahmt hat.
Wie ein Großteil der traditionellen progressiven Politik neigt auch Degrowth dazu, politische Arbeit im Sinne eines wissenschaftlichen, scheinbar realitätsbasierten Prozesses zu gestalten.. Degrowth fühlt sich oft über-akademisch und kopflastig an, Emotionen werden ignoriert. Aber wo ist das Träumen und ist die Fantasie geblieben? Obwohl es auf der letzten Degrowth-Konferenz Räume für intuitives Lernen und fürs Feiern gab, werden diese leider allzu oft als bloßer Zusatz zu den „rationalen“ Vorträgen, Workshops etc. wahrgenommen.
Der Kapitalismus hat unsere Fantasie mit Konsumspektakeln eingefangen; seine Celebrities sind zu unseren mythologischen Held_innen geworden und seine Videospiele zu unseren wilden Abenteuern. Er verspricht uns die Fantasie eines besseren Lebens, das immer noch besser gemacht werden kann. Fantasie ist der Brennstoff des Unterhaltungsgeschäfts, der Popkultur und der meisten Religionen und dennoch fürchten wir sie als politisches Werkzeug; wir misstrauen allem, was irrational scheint und verweisen es ins „Kunstprogramm“.
Artivism erkennt hingegen an, dass es bei der Politik seit jeher um Fantasie geht, darum nämlich, dass wir uns die Zukunft vorstellen, die wir wollen. Es gelang uns, solche Werkzeuge zu nutzen, sie zurückzustehlen von der Populärkultur und das zu erschaffen, was Stephen Duncombe, Autor und Gründer des Center for Artistic Activism, „ethical spectacle“, ethisches Spektakel, nennt. Darin stellen wir unsere Träume gemeinsam dar, mit visionären und partizipativen Aktionen. Auf diese Weise schaffen wir neue Realitäten, mithilfe von Symbolen und Geschichten, die eine neue Wahrheit bilden – statt auf Befreiung zu warten.
Die Degrowth-Bewegung könnte von Artivism lernen und anerkennen, dass erfolgreiche Politik ebenso eine Sache von Sehnsucht und Fantasie ist wie von Vernunft und Ratio. Es ist ein Fehler, all diese kraftvollen Werkzeuge dem Kapitalismus zu überlassen. Solange die Verlockungen des Kapitalismus scheinbar mehr Spaß machen und unsere tiefen Sehnsüchte berühren können, werden wir dabei scheitern, den so notwendigen radikalen kulturellen Wandel zu vollziehen. Der Erwerb eines I-Pads wird viel cooler bleiben als das Reiten auf einem Esel.
Statt dass Künstler_innen ausschwärmen, um ihre Kreativität in der Degrowth-Bewegung auszuleben, arbeiten sie jedoch weiterhin in der Werbeindustrie und in anderen Maschinerien, die die kapitalistischen Sehnsuchtsfallen reproduzieren. Ohne ihre Kreativität wird Degrowth jedoch eher eine nette Ideensammlung bleiben als eine neue Kultur. Die Fragen, die wir uns stellen müssen, lauten: Wie lernen wir, uns gegenseitig darin auszubilden, anders zu begehren und anderes zu ersehnen? Wie kann Degrowth genauso sexy werden wie Kapitalismus und wie kann „klein“ wirklich schön werden? Und zu guter Letzt: Wie können wir lernen, die in der industriellen Zivilisation enthaltene Gewalt wirklich zu spüren und die endlos fortgeführten Verbrechen gegen das Leben wirklich zu fühlen? Wie können wir die Betäubung abschütteln und zur Sensibilität zurückkehren?
Was Degrowth seinerseits zu Artivism und vor allem zur Welt der Kunst beitragen kann, ist das Streben nach Übereinstimmung zwischen Denken und Leben. Die Kluft zwischen dem, was wir glauben, und dem, wie wir handeln, führt uns zwangsläufig ins Leid und zu verwirrenden Vorbildern. Im kulturellen Bereich leben viele mit einer Spaltung zwischen ihrer Politik, ihrer Ästhetik, ihrer Ethik und dem alltäglichen Leben.
Viele Künstler_innen und Kulturproduzent_innen fliegen von Konferenzen zu Biennalen, um zum Klimawandel zu arbeiten. Andere machen systemkritische Arbeiten in Museen, die von Banken finanziert werden. Indem sie ihr Leben nicht als Material begreifen, mit dem sie arbeiten – was Foucault als Lebenstechnik oder Lebenskunst bezeichnet –, reproduzieren sie die typischen Aufspaltungen des Kapitalismus. Anstatt ihre Kreativität darauf zu verwenden, wie wir reisen können, ohne einen Klimakollaps zu verursachen, wie wir uns herrschaftsfrei organisieren können, wie wir unsere Nahrung anbauen können, ohne unsere Böden zu zerstören, und wie wir neue Kommunen aufbauen können, leben sie weiterhin mit der Kluft zwischen ihren Überzeugungen und ihrem Verhalten. Die Degrowth-typische Ausrichtung auf ganzheitliche Praktiken könnte dies verändern.
Eine der dringlichsten Aufgaben ist der Aufbau einer Kultur des Widerstands. Ich glaube nicht, dass wir ohne Akte des Widerstandes Lösungen für die anhaltende soziale und ökologische Katastrophe installieren können, denn diejenigen, die vom bestehenden Wirtschaftssystem profitieren, werden ihre Macht nicht aufgeben. Wir brauchen Bewegungen, die wünschenswerte Alternativen aufzeigen bei gleichzeitiger Bereitschaft, dem gegenwärtigen System zu widerstehen. Ohne eine gemeinsame Sammlung von Werten und Verhaltensweisen, ohne eine Kultur, in der Akte des Widerstands von breiten Bevölkerungsteilen unterstützt werden, werden wir nicht in der Lage sein, jenen Systemwandel herbeizuführen, der notwendig ist, um Gerechtigkeit herzustellen und den Zusammenbruch unserer Lebenserhaltungssysteme zu verhindern.
Ich glaube nicht, dass diese unsere Kultur irgendwie einen freiwilligen Wandel zu einer vernünftigen, gerechten und nachhaltigen Lebensweise durchlaufen wird. Ich glaube, dass wir vieles von dem, was Bestandteil dieser Kultur ist, auflösen müssen und dass wir völlig andere Weisen, zu sein und unsere Welt zu teilen, aufbauen müssen. Und genau das ist Widerstand: er bedeutet, ungerechte Machtstrukturen zu konfrontieren und aufzulösen, um den Weg freizumachen für das Erblühen anderer Kulturen.
Letztendlich denke ich, dass sich in einer neuen Kultur, die die Kultur des Kapitalismus und der Herrschaft ersetzen wird, die Rolle von Kunst und Aktivismus radikal verändern wird. Kunst als etwas vom täglichen Leben Getrenntes, als etwas für die Sammlungen und den Profit der Reichen, als etwas zum Besitzen oder Anschauen, von anderen geschaffen – all dies wird der Vergangenheit angehören. Kunst wird eher als Verb denn als Substantiv verstanden werden, als eine Art des Tuns und eine bestimmte Qualität der Aufmerksamkeit, die jede_r im täglichen Leben ausüben kann, nicht nur Künstler_innen.
Vielleicht wird auch die Vorstellung verschwinden, dass Aktivist_innen Spezialist_innen dafür sind, die Gesellschaft zu verändern. In einer Gesellschaft der Commons, die nicht durch einen hierarchischen Staat, sondern lokal und basisdemokratisch organisiert ist, wird sich jede Person als Teil des sozialen Transformationsprozesses und der politischen Praxis verstehen. Politik wird nicht mehr von Ethik getrennt sein. Aristoteles sah das Streben nach dem Wohl der politischen Gemeinschaft, nach dem Gemeinwohl der Menschheit als ganzer, als Teil der Ethik an. Dieses Streben nannte er „eudaimonia“, was „das gute Leben“ bedeutet. Dies, so glaubte Aristoteles, sei das oberste Ziel aller Menschen. 2300 Jahre später bringt uns die Degrowth-Bewegung diesem Traum vielleicht näher als jemals zuvor. ------------------------ Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Beitrags zu Artivism und Degrowth in unserem Projekt Degrowth in Bewegungen. Hier geht es zum Volltext
Übersetzung: Christiane Kliemann
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