Forschungsstrategie und Forschungsfragen für das ‚Postwachstumskolleg‘ (Jena) 2013-2015
Eine Grundüberzeugung des Postwachstumskollegs besteht darin, dass die Überwindung der blindlaufenden Steigerungszwänge moderner, kapitalistischer Gesellschaften einer komplexen, simultanen und mehrdimensionalen Transformation (oder Revolution) bedarf, die ökonomische, politische und kulturelle Veränderungen zugleich impliziert. Die wesentliche Aufgabe des Kollegs besteht darin, so genau wie möglich zu identifizieren, was genau sich ändern muss, um die ‚blindlaufenden‘ ökonomischen, politischen und kulturellen (d.h. auf die Sinnebene und die Lebensführung der Subjekte bezogenen) systemischen Steigerungsimperative außer Kraft zu setzen.
Dies wiederum setzt voraus, dass die jeweiligen Steigerungszwänge und -mechanismen sowie deren jeweilige institutionelle Verankerungen genau erfasst sind. Zugleich ist es aber auch ein Ziel des Kollegs, Perspektiven dafür zu eröffnen, wie die Steigerungszwänge jeweils überwunden werden könnten. In der zweiten Arbeitsphase des Kollegs steht nun die kulturelle Dimension im Mittelpunkt.Den Ausgangspunkt bildet hier die Einsicht, dass die expliziten und mehr noch die impliziten Definitionen des Glücks, des Wohlergehens und des guten Lebens in westlich-modernen Gesellschaften wachstums- und steigerungsbasiert sind, dass also Lebensqualität, aber auch die Qualität politischen Handelns stets an Zuwachsraten gemessen wird, was zu unabschließbaren quantitativen Steigerungs- und Optimierungszwängen führt. Selbst jene Versuche, die für die Bestimmung der Indikatoren von Lebensqualität über rein ökonomische Indikatoren (wie das Bruttosozialprodukt) hinausgehen, neigen dazu, Qualitätssteigerungen an Optionenerweiterung und damit an ‚Reichweiten- und Potenzwachstum‘ zu binden (z.B. Amartya Sens Capability-Approach). Demgegenüber versucht das Kolleg eine andere Bestimmung von Lebensqualität zu finden, die ‚negativ‘ durch die Beseitigung und Vermeidung von Entfremdungskontexten und ‚positiv‘ durch die Etablierung und Sicherung von Resonanzachsen und -erfahrungen charakterisiert ist. Die zu lösenden Hauptaufgaben der Kollegsforschung in den kommenden zwei Jahren wird es also sein
1) die Begriffe der Resonanz und der Entfremdung genauer zu bestimmen und so weit wie möglich empirisch erforschbar zu machen;
2) zu prüfen, inwieweit sie zur Definition eines neuen Maßstabs von Lebensqualität geeignet sind bzw. durch welche komplementären Elemente sie zu ergänzen wären
3) zu analysieren, welche ökonomischen und politischen Implikationen und ‚Wechselwirkungen‘ sich daraus ergeben, und
4) zu ermitteln, an welche Akteure und soziale Bewegungen eine solche kulturelle Transformation anschlussfähig ist.
Als forschungsorientierend gilt uns dabei die Frage, ob sich systemische Wachstumsimperative und soziales Wohlergehen voneinander entkoppeln lassen und auf welche Weise Nicht-Wachstum mit einem Zugewinn an Lebensqualität für gesellschaftliche Mehrheiten einhergehen kann. ‚Postwachstum‘ bedeutet freilich nicht den völligen Verzicht auf Wachstum, Beschleunigung oder Innovation. Natürlich sollten grüne Technologien eine Wachstumsbranche bilden, die sich beschleunigt entwickelt, und natürlich sind Innovationen in der Krebsbekämpfung höchst wünschenswert. Sie dienen hier indessen allesamt der Status quo-Veränderung (und Verbesserung); was es zu überwinden gilt, ist ein gesellschaftlicher Reproduktionsmodus, der auf systematische Steigerung hin angelegt ist, um seine Struktur- und Funktionsweise aufrecht zu erhalten.
Das zentrale Forschungsinteresse dieser zweiten Phase ist also auf die Analyse der Art und Weise fokussiert, in der sich die dreifache, verschränkte Steigerungslogik von Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung auf das kulturelle Weltverhältnis bzw. die Weltbeziehung der Subjekte auswirkt. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich in den entwickelten Industrienationen die Zukunftshorizonte eingetrübt haben, dass also an weitere Wachstums-, Beschleunigungs- und Innovationsgewinne keine Fortschrittshoffnungen im Sinne einer Verbesserung von Lebensqualität und Wohlergehen mehr geknüpft sind und dass politische Reformen in aller Regel nicht mit der Aussicht auf eine Verbesserung der „conditio humana“, sondern mit der Drohkulisse eines Niedergangs und Zurückbleibens im Steigerungswettbewerb begründet werden, soll als grundlegend neues Element nun nach den Quellen, Manifestationsformen und Folgewirkungen von Störungen in der Weltbeziehung der Subjekte gefragt werden.
Dazu wird auf das jüngst u. a. durch Rahel Jaeggi wiederbelebte Konzept der Entfremdung zurückgegriffen. Entfremdung soll dabei nicht als Verfehlung einer essentialistisch verstandenen Natur des Menschen, sondern als Störung in der Aneignung bzw. Anverwandlung von Dingen, Tätigkeiten und Menschen bzw. in der Beziehung zu Raum, Zeit, Gesellschaft und zum eigenen Körper begriffen werden. Um einen solchen Entfremdungsbegriff trennscharf und empirisch fruchtbar machen zu können, bedarf es der systematischen Entfaltung eines positiven Gegenkonzepts der gelingenden, d. h. nicht-entfremdeten Weltbeziehung.
Als ein solches Konzept soll der Begriff der Resonanzbeziehung etabliert und exploriert werden. Ausgangspunkt hierfür ist die Vermutung, dass Subjekte ihre Welt, ihr Leben, ihr Handeln bzw. ihre sozialen Beziehungen immer dann als gelingend oder erfüllend erfahren, wenn sie Resonanzerfahrungen machen. Das Resonanzkonzept kann als grundlegende Modifikation bzw. Erweiterung des etwa von Axel Honneth, Charles Taylor u. a. eingeführten Anerkennungskonzepts verstanden werden. Denn anerkennungstheoretisch lässt sich eine ganze Reihe von Erfahrungen des Glücks, der Erfüllung und der gelingenden Weltbeziehung konzeptuell nicht einholen, die phänomenologisch von größter Bedeutung sind. Dazu zählen etwa Naturerfahrungen sowie ästhetische oder religiöse Erfahrungen. Tatsächlich, so scheint es, dienen den Subjekten in der Moderne insbesondere diese drei Phänomenbereiche: Natur (exemplarisch hierfür etwa Momente des „Einklangs“ auf Berggipfeln oder an Meeresstränden), Ästhetik (und hier insbesondere musikalische Erfahrungen) und Religion als paradigmatische Resonanzflächen. In solchen Erfahrungen versuchen sie sich eines Einklangs oder einer Harmonie mit sich selbst und „der Welt“ zu vergewissern.
Daher scheint das Resonanzkonzept nicht nur insofern über das Anerkennungskonzept hinauszugehen, als es auch solche Formen gelingender oder gestörter Weltbeziehung theoriestrategisch einzubeziehen erlaubt, sondern es scheint auch im Hinblick auf eine Neuinterpretation sozialer Interaktionsverhältnisse fruchtbar zu sein: Mit Hilfe des Resonanzkonzeptes lässt sich einerseits die Konstituierung der Subjektivität aus der Intersubjektivität, wie sie seit G. H. Meads einflussreichen Arbeiten in der Soziologie diskutiert wird, aufschlussreich rekonstruieren, und andererseits erklären, wieso das Ignorieren bzw. die Indifferenz gegenüber einer Person in aller Regel schwerwiegendere Folgen hat als ihre Missachtung im Sinne einer expliziten Missbilligung oder Abwertung.
Entfremdungserfahrungen lassen sich im Lichte dieser Annahme als Konsequenzen „stummer“, nicht-resonierender Beziehungen interpretieren; sie können sich trotz und unter Umständen gerade infolge erfolgreicher instrumenteller Beziehungen zu Dingen, Menschen, Räumen etc. einstellen. Indem auf diese Weise anhand des Begriffspaares Resonanz/Entfremdung ein normativ gehaltvolles, gesellschaftstheoretisch fundiertes und empirisch anschlussfähiges Diagnoseinstrument für Störungen in der Weltbeziehung moderner Subjekte etabliert und für die empirische Forschung operationalisierbar gemacht wird, hoffen wir, einen neuen Indikator für Lebensqualität und menschliches Wohlergehen zu gewinnen. Dieser soll es erlauben, die für die Moderne seit der Aufklärung konstitutive Fortschrittshoffnung von den modernen Dynamisierungsprinzipien zu trennen, so dass die Förderung des menschlichen Wohlergehens als Politik- und Gestaltungsziel nicht nur erhalten bleibt, sondern potentiell gerade gegen die systemischen und kapitalistischen Steigerungsimperative in Anschlag gebracht werden kann.
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