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“Degrowth thematisiert noch zu wenig die Fragen des sozialen Wandels”

15.03.2014

Care revolution

Interview mit Jette Hausotter

Der AK Reproduktion, das Feministische Institut Hamburg und die Rosa-Luxemburg-Stiftung laden ein zur „Aktionskonferenz Care Revolution“ am 14.-16. März 2014 in Berlin. Für den Stream towards Degrowth hat uns Jette Hausotter, als Mitglied des AK Reproduktion, einige Fragen beantwortet. Die Initiator_innen der Aktionskonferenz und über 50 Kooperationspartner_innen wollen den Anstoß geben, die individuellen und kollektiven Anstrengungen in Bereichen der sozialen Reproduktion für bessere Lebensbedingungen als gemeinsame zu denken und zum Ausgangspunkt eines gemeinsamen politischen Handelns zu nehmen. Wie auch auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig wird es darum gehen, wie wir Verhältnisse schaffen können, in denen für jede_n ein gutes Leben möglich ist.

1. Ist die Wachstumsabhängigkeit auch ein wichtiges Thema für die Care Revolution Konferenz?

Ja, weil die Lebensqualität von Menschen unter der Profitsteigerungs- und Wachstumslogik der Ökonomie leidet. Die Care Revolution wird von einem breiten Bündnis getragen. In der Praxis der einzelnen Gruppen spielen konkrete (Post-)Wachstumsdebatten eine unterschiedliche Rolle - aber wir teilen eine grundsätzliche Kritik der bestehenden Verhältnisse, die uns auch mit der Degrowth-Bewegung verbindet. Ausgangspunkt des Projektes Care Revolution war zunächst die europäische Krisenpolitik der letzten Jahre. Die politischen Maßnahmen zur ökonomischen Stabilisierung zielen auf den Erhalt bzw. die Wiederherstellung von Kapitalwachstum. Insbesondere die Sparpolitik in sozialen Bereichen verschärft dabei ein grundsätzliches Problem kapitalistischer Gesellschaften: den Widerspruch zwischen einerseits der Kapitalakkumulation, d.h. der Produktion mit dem Ziel der Profitsteigerung, und andererseits der sozialen Reproduktion im Sinne der Reproduktion von Arbeitskraft, d.h. der Sorge um sich und für andere Menschen. Die Krise findet im Alltag der Menschen statt. Auf der Basis der alltäglichen Überlastung vieler Menschen „sanieren“ sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. In der aktuellen Krise geraten die Lebensbedingungen immer weiter unter Druck: Zeitstress und Angst vor einer ungewissen Zukunft bestimmen den Alltag. Viele müssen immer mehr arbeiten, andere finden keine Jobs. Hinzu kommt die Sorge um sich und andere: Kinder, Alte, Kranke, Freund_innen, Angehörige. Für einige scheinen Erholung, Muße und die Möglichkeit Gesellschaft mitzugestalten unerreichbar. Viele sind von Armut oder Diskriminierung betroffen, und für Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus steht fast alles unter Vorbehalt. Herrschende Vorstellungen von ‚Normalität’ greifen weit in die Lebensweisen der Menschen ein, produzieren Ausschlüsse und Unsicherheit. Bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit muss ihre zwischenmenschliche Qualität gegen Zeitdruck, Kostendruck und Überforderung behaupten. Dies geht zu Lasten der Sorgegebenden und –nehmenden. Da Macht und Ressourcen ungleich verteilt sind, sind es überwiegend Frauen, die diese Reproduktionskrise abfedern. Neben der Geschlechterungleichheit werden weitere soziale Ungleichheiten, insbesondere entlang von Einkommen und Bildung durch die falsche Verteilungspolitik verstärkt. Gutes Leben steht im Widerspruch zu kapitalistischem Wachstum und geht definitiv nur in anderen politisch-ökonomischen Verhältnissen!

2. Warum ermöglicht uns die Betrachtung der sozialen Reproduktion Wege zum guten Leben?

Der Wunsch nach einem guten Leben steht im Zentrum der Care Revolution. Die soziale Reproduktion betrifft uns alle: es geht um unser Leben, unseren Alltag: Wie und mit wem wollen wir wohnen? Wie sorgen wir für uns und andere? Wie wollen wir gepflegt werden und wie kann gute Gesundheitsversorgung aussehen? Viele Menschen arbeiten in diesen Bereichen – einige bezahlt, andere unbezahlt. Wir alle sind darauf angewiesen. Die Care Revolution ist Gesellschaftskritik vom Standpunkt der Reproduktion. Das bedeutet ganz einfach, dass wir Ökonomie und soziale Ungleichheit ausgehend von den alltäglichen Erfahrungen und Interessen der Menschen im Hinblick auf die Sorge um sich und um andere betrachten. Hierbei ist uns eine queer-feministische Positionierung wichtig. Das schließt Kämpfe gegen jegliche Diskriminierung, gegen Armut und Ungleichheit, gegen fehlende soziale und rechtliche Sicherheiten ein. Die Grundlage unseres gemeinsamen Handelns ist nicht eine gemeinsame Identität. Dafür sind die Missstände in der sozialen Reproduktion auch zu vielfältig. Sondern es geht um Solidarität, um den politischen Willen, dass nicht die Care-Probleme einiger auf dem Rücken anderer gelöst werden. Es ist z.B. keine Lösung, dass zahlungskräftige Haushalte Teile ihrer täglichen Reproduktionsarbeit an – häufig illegalisierte – Migrantinnen delegieren - oder dass gute Pflege oder Assistenz ein Frage des Einkommens ist. Heteronormative Vorgaben darüber, was schützenswerte und anerkannte Sorgebeziehungen sind, wollen wir überwinden. Und auch Kämpfe um bezahlbaren Wohnraum oder für Bewegungsfreiheit und politische und soziale Rechte für Refugees sind Teil der Care Revolution. Es geht um die alltäglichen Lebensbedingungen der Menschen, um Verhältnisse, in denen ein gutes Leben möglich ist. Die Herausforderung ist es, Verbindungen herzustellen. Wir bringen Aktivist_innen unterschiedlicher Felder sozialer Reproduktion zusammen, um uns in unseren Kämpfen solidarisch zu unterstützen. Und die Care Revolution entwickelt ihre Strategien und Ziele im solidarischen Dialog zwischen beruflich oder privat Sorgearbeitenden sowie Pflege- und Assistenznehmer_innen, also allen Beteiligten an Sorgebeziehungen und -netzwerken. Und wir verbinden die Etablierung von alternativen Lebens-, Arbeits- und Beziehungsformen im Hier und Jetzt mit dem Kampf um ökonomische Umverteilung und den Ausbau sozialer Infrastrukturen.

3. Welche Synergien können sich zwischen den Bewegungen Degrowth und Care Revolution ergeben? Gibt es auch Divergenzen zwischen den beiden Forderungen?

Das wird sich zeigen. Unsere Aktionskonferenz ist der sichtbare Höhepunkt eines längeren Prozesses. Dieser begann damit, vielfältige Gruppen und Organisationen, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen Haushalts- und Sexarbeit – politisch aktiv sind, anzusprechen und für unsere Idee der solidarischen Vernetzung und der Bündelung von Kräften zu gewinnen. Die Resonanz war großartig. Es entwickelte sich ein Bündnis von mittlerweile fast sechzig Gruppen. Die Konferenz mit Workshops und einer gemeinsamen Demonstration soll denen, die sich politisch in Bereichen sozialer Reproduktion engagieren, Sichtbarkeit verschaffen. Gemeinsam wollen wir die Krise sozialer Reproduktion aus vielfältigen Perspektiven beleuchten. Das Hauptziel der Konferenz ist es, die Care Bewegung zu stärken. Daher stehen Austausch, Vernetzung und die Entwicklung gemeinsamer politischer Handlungsperspektiven im Vordergrund. Es soll z.B. ein Netzwerk gegründet werden, in dem die gemeinsame Arbeit fortgeführt wird. Es geht also erst los! Einige von uns stellen die Care Revolution auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig vor, weil wir uns über gemeinsame Visionen und politische Ziele verständigen möchten. Wir denken, dass hier Synergien möglich sind. In einem emanzipatorischen Transformationsprojekt sollten sich Kämpfe um soziale Reproduktion, Naturverhältnisse und Postwachstum verbinden. In unseren Debatten spielen Ökologie und Nachhaltigkeit, die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, bisher eine Nebenrolle. Und Degrowth thematisiert noch zu wenig die Fragen des sozialen Wandels vom Standpunkt der sozialen Reproduktion. Diese große „unsichtbare“ Seite der Ökonomie rücken wir ins Zentrum. Denn wir sind der Überzeugung, dass ein gemeinsames Transformationsprojekt Care ins Zentrum stellen muss. Es geht hier im Kern auch um Geschlechterverhältnisse, um Rassismus, um soziale Ungleichheit und Diskriminierung. Diese Themen müssen aktiv angegangen werden, damit sie nicht, wie im Kapitalismus, die Grundlage der politisch-ökonomischen Verhältnisse bleiben.

Vielen Dank für das Interview, Jette Hausotter!

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