Von Tadzio Müller
Im Vorfeld der letzten UN Klimakonferenz in Lima, Peru, machte immer wieder eine Schlagzeile die Runde: der Versuch, ein bestimmtes Ideologem im Bewusstsein der globalen Eliten und auch der breiteren Bevölkerung zu verankern: „Leute“, hieß es, „Ihr habt recht, Euch um den Klimawandel zu sorgen, aber, nach Berichten des Internationalen Währungsfonds und einem neuen Report zum Zusammenhang von Klimaschutz und Wirtschaft (im Prinzip ein zweiter Stern-Report), sollt Ihr um Himmels Willen nicht anfangen, aus Sorge um das Klima das Wirtschaftswachstum in Frage zu stellen.“ Wirtschaftswachstum, so die alte Geschichte, kann in Wirklichkeit sehr gut mit Klimaschutz kombiniert werden, wenn es nur richtig angegangen wird.
Während uns Naomi Klein in ihrem hervorragenden neuen Buch „Die Entscheidung - Kapitalismus vs. Klima“ kraftvoll daran erinnert, dass der Klimawandel wirklich alles verändert, wie der englische Titel ihres Buches besagt, schaffen Leute wie der fast verantwortungslos optimistische Paul Krugman es sogar, prominente US-Klimaleugner wie die Koch-Brüder mit Teilen der Klimabewegung in einen Topf zu schmeißen – nämlich dem Teil, der mit harten Fakten und starken theoretischen Argumenten darauf hinweist, dass eine Verringerung klimaschädlicher Emissionen auf ein sicheres Niveau nur mit strukturellen Veränderungen der globalen Wirtschaft gehen kann, und dass es bei weitem nicht ausreicht, Klimagase einfach nur mit einem Preis zu versehen.
Die Schlacht scheint bereits zu toben: Im Vorfeld des 21. Klimagipfels in Paris diskutiert die Welt wieder einmal, wie wir unseren Klimagasausstoß drastisch reduzieren können, und wieder einmal schlagen die Entkopplungspropheten ihre Trommeln und behaupten, man könne Wirtschaftswachstum von Umweltzerstörung entkoppeln. Die Frage stellt sich, wen oder was sie damit übertönen wollen? Denn neben der Dauerbrenner-Debatte um den Klimawandel gibt es vor allem in Globalen Norden (genauer gesagt in Europa und Kanada) eine ganz andere Diskussion, die sich im Schatten der globalen Medienlandschaft entwickelt hat: die Diskussion darüber, wie verrückt es ist, auf einem endlichen Planeten ein Wirtschaftssystem zu haben, das auf unendlichem Wachstum basiert, und auch darüber, wie mögliche Alternativen aussehen könnten: ein noch ziemlich vages Konzept, das wahlweise Degrowth, Postwachstum oder Décroissance genannt wird.
Die Kraft mit der versucht wird, uns– entgegen den überwiegenden verfügbaren Fakten – davon zu überzeugen, dass Wirtschaftswachstum und Klimaschutz kompatibel seien, lässt auf die Hoffnung des liberalen Mainstreams schließen, eine kritische Debatte zu Degrowth zu vermeiden; einer Bewegung, die vor allem in Verbindung mit der Klimagerechtigkeitsbewegung noch kraftvoller die strukturellen Veränderungen einfordern könnte, die wir als nötig erkannt haben. Schließlich ist beiden „Bewegungen“ die Tendenz zu einer starken Kapitalismuskritik oder wenigsten die Kritik an der kapitalistischen Tendenz zu Überproduktion und Überkonsum1 gemein, weshalb eine Allianz der beiden höchst wünschenswert wäre.
Dies war eine der vielen wichtigen Fragen, die auf der Leipziger Degrowth-Konferenz letztes Jahr erörtert wurden. Was, so hatten die Organisatoren gefragt, könnte die Beziehung sein zwischen Degrowth und anderen sozialen Bewegungen, vor allem der Klimagerechtigkeitsbewegung? Gerade weil eine solche Beziehung so wahnsinnig wünschenswert wäre, möchte ich erst einmal mit einer Dissonanz starten, da es auch beträchtliche Unterschiede zwischen den beiden gibt, die man um so schwieriger überwinden kann, je später man sie erkennt. Wie in jeder guten Beziehung: bevor wir zusammen im Bett landen, lass uns erst über unsere Unterschiede reden, OK? Wie ich es sehe, gibt es drei entscheidende Unterschiede, deren wir uns bewusst sein sollten:
Erster UnterschiedWährend Degrowth eine Erzählung ist, die vor allem im globalen Norden artikuliert wird und von Befindlichkeiten spricht, die besonders dort existieren, ist Klimagerechtigkeit eine Bewegung und Erzählung, die von Leuten im Globalen Süden artikuliert und angeführt wird. Wenn der bekannte Postwachstumstheoretiker und –verfechter Niko Paech davon spricht, dass man sich „vor einer Flut kaum mehr überschaubarer Konsummöglichkeiten schützen“ müsse, so weist er klar auf ein Problem hin, das die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht betrifft, das vor allem im Globalen Norden erfahren wird und selbst dort vor allem ein Mittelklasse-Diskurs ist. Im Gegenzug wurzelt Klimagerechtigkeit als Erzählung und Bewegung in den Erfahrungen der breiteren Umweltgerechtigkeitsbewegung, die in den USA der 80er Jahre in den „Communities of colour“ entstand, also dem „Süden“ mitten im „Norden“; vor allem in indigenen Gemeinschaften.
Die Argumentation seinerzeit war, dass die Umweltbewegung vor allem eine Bewegung von der weißen Mittelklasse für die weiße Mittelklasse war. Ihre absolut verständliche Forderung, ihre Kommunen frei von Luftverschmutzung zu halten und ihre Kinder nicht von Chemiebetrieben und Kraftwerken vergiften zu lassen hatte allerdings einen bedauernswerten Effekt: Anstatt solche Betriebe dauerhaft zu schließen und rückzubauen, wurden sie einfach verlegt – weg von den reicheren Kommunen, hin zu den ärmeren der Farbigen. Indem also scheinbare reine Umweltprobleme nicht auch als soziale Probleme gesehen wurden, und nicht bewusst gemacht wurde wie eine einzelne dreckige Fabrik in breitere soziale Strukturen von Dominanz und Ausbeutung eingebettet ist, hat die liberale Umweltbewegung die Probleme nicht gelöst, sondern einfach auf der Leiter der sozialen Macht ein paar Stufen runterverlagert.
Ob absichtlich oder nicht hat dieser „NIMBYismus (not in my backyard = nicht in meinem Hinterhof) nicht zu einer wirklichen Umweltbewegung, sondern zu Umweltrassismus geführt, von dem sich die neuen Bewegungen als „Umweltgerechtigkeitsbewegungen“ bewusst absetzen. Mitte der 90er Jahre, als das Kyoto-Protokoll mit seinen verschiedenen Marktmechanismen formuliert wurde – Mechanismen, die, wie wir heute wissen, wenig zur Lösung der Klimakrise beitragen, sondern vielmehr damit fortfahren, indigene Völker von ihrem angestammten Land zu vertreiben – wurde diese Erzählung wieder aufgenommen. Gegen das, was man als „Klimarassismus“ der CO2-Kompensationen und anderer Maßnahmen bezeichnen könnte, formulierte der US-amerikanische Indigenenführer Tom Goldtooth2 erstmalig die Forderung nach Klimagerechtigkeit, um die herum eine inspirierende globale Bewegung entstand.
Der Grund, in die Geschichte zurückzugehen und in die verschiedenen Perspektiven herauszustreichen, aus denen sich diese Erzählungen entwickelten, ist nicht, den Degrowthern einen auf die Mütze zu geben, ihnen zu sagen wie privilegiert sie seien, und dass sie doch den Mund halten sollten. Der Grund ist vielmehr, sie auf die Gefahren hinzuweisen, die in der Degrowth-Erzählung verborgen sind; nämlich die Gefahr eines neuen Umweltrassismus in Richtung von „Hey, Ihr Armen im Globalen Süden, hört auf zu wachsen, wir müssen alle den Gürtel enger schnallen!“ – und wir alle wissen, wer in solchen Fällen üblicherweise den Gürtel enger schnallt.
Wegen dieser Gefahr – und um es noch einmal klar zu sagen, ich bezichtige die Degrowth-Bewegung keineswegs des Umweltrassimus, aber ich weise darauf hin als eine Gefahr, die genau dann entsteht, wenn die Degrowth-Diskussion breiter wird und mehr Raum in den Medien einnimmt – muss die Degrowth-Bewegung die Dimension der globalen Gerechtigkeit mehr in den Blick nehmen als bisher. Gleichzeitig war es allerdings genau diese Idee von globaler Umweltgerechtigkeit die, verbunden mit der Vorstellung endlicher natürlicher Ressourcen, viele Degrowth-Denker und Aktivisten überhaupt erst dazu motiviert hat, strukturelle Muster von Überproduktion und Überkonsum zu hinterfragen. Dies im Hinterkopf, ist Degrowth nicht einfach ein weiterer paternalistischer Ansatz aus dem Norden, der dem Süden einen bestimmten Entwicklungspfad aufdrängen will, sondern es öffnet Chancen und Allianzen für vielfältigen Wandel von unten überall auf der Welt.
Für eine solche Interaktion mit den verschiedensten Perspektiven muss die Degrowth-Bewegung jedoch ihre beiden liebsten Aggregatzustände hinter sich lassen; die wissenschaftliche Diskussion einerseits und kleine Nischen-Projekte andererseits; und im strategische Sinne denken; im Sinn von Kämpfen, Forderungen und Gegnern – und im Sinne globaler Wirksamkeit. Wäre die Forderung „es im Boden zu lassen“ (ob fossile Brennstoffe oder andere endliche Ressourcen) nicht sehr im Sinne von Degrowth? Aber mehr dazu später……
Klimagerechtigkeit wurzelt in klar umrissenen Kämpfen – denen der Bevölkerung an den Frontlinien im Kampf gegen Raubbau an Ressourcen, industrielle Landwirtschaft, Megaprojekte und Folgen des Klimawandels und ihrer Verbündeten– und identifiziert deshalb auch Akteure des Wandels, selbst wenn diese nicht genug Macht haben, die gewünschten Resultate zu erzielen. Degrowth hingegen scheint gerade nicht in spezifischen Kämpfen verwurzelt zu sein, sondern geht vielmehr von einer konzeptionellen Kritik aus, von einer Idee. Aus der Perspektive einer Bewegung ist dieser Mangel an Basis eher problematisch, da es bedeutet, dass die Degrowth-Bewegung (noch?) nicht die Frage beantworten kann, die ich für zentral halte für jede soziale Bewegung: Wer würde für Deine Ziele kämpfen (in diesem Falle Degrowth) und warum? Haben diese Akteure des Wandels das Interesse und die Kapazität den Status Quo zu verändern? Weil sie keine soziale Basis hat, nicht in konkreten Kämpfen verwurzelt ist sondern eher in einem weit verbreitetem Gefühl von „Unbehagen in der Kultur“ (Freud), hat die Degrowth-Bewegung es notwendigerweise schwer, Felder von kollektiver transformativer Praxis für die, die sie politisiert, zu identifizieren.
Und da ist ein dritter Unterschied, der vielleicht ein Resultat der ersten beiden ist: Degrowth ist eine Erzählung, die in Teilen Europas und des Globalen Nordens starken Anklang findet, während unsere Versuche, zumindest in Deutschland eine Klimagerechtigkeitsbewegung zu starten, nicht besonders gefruchtet haben. Beispiel a: Die Tatsache, dass die Vierte Degrowth-Konferenz geschafft hat, um die 3000 Leute in Leipzig zu versammeln, während keine andere soziale Bewegung, die ich kenne, selbst in Berlin mehr als 2000 Leute zusammenbringen könnte; ich wage zu behaupten, dass eine Konferenz zu Klimagerechtigkeit es schwer hätte, auch nur 1000 Teilnehmende anzuziehen. Sicher war dieser Erfolg auch der unglaublich guten Arbeit der Organisator_innen zu verdanken, er war aber gleichzeitig ein Indiz dafür, dass die Degrowth-Erzählung auch für andere als die üblichen Verdächtigen auf Bewegungs-Events attraktiv ist. (Dieser Eindruck wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass viele der Teilnehmenden noch nie zuvor auf einer sozialen Bewegungskonferenz waren).
Beispiel b: Die wichtige (wenn auch politisch recht irrelevante) parlamentarische Enquete-Kommission zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ von 2011 bis 2013, die zeigte, dass die Wachstumskritik selbst konservative und liberale kulturelle Milieus „infiziert“ hat. Und schließlich, Beispiel c aus meiner eigenen Erfahrung: Wenn ich versuche, meinen konservativen Großvater von der Klimagerechtigkeits-Erzählung zu überzeugen; davon, dass der Reichtum, den wir im Globalen Norden angehäuft haben, in Wirklichkeit ein großer Schuldenberg ist, den wir dem Globalen Süden schulden, ignoriert er mich normalerweise. Wenn ich ihm darlege, was vielleicht der allerzentralste Punkt der Degrowth-Argumentation ist, nämlich dass es „kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten“ geben kann, ist er gezwungen zuzustimmen. Auf dieser Basis können wir dann eine kapitalismuskritische Konversation starten. In dieser Erzählung steht mein Großvater stellvertretend für viele Menschen im Globalen Norden, die wenig mit „Klimagerechtigkeit“ am Hut haben, die aber das Gefühl von Unbehagen teilen, das die Degrowth-Bewegung in der Lage war zu formulieren.
Mein Punkt ist also der: Ja, es gibt beträchtliche Unterschiede zwischen der Degrowth- und der Klimagerechtigkeitsbewegung – aber sie sind auf eine Art einander ergänzende Unterschiede. Was Degrowth fehlt (Mangel an Kämpfen und ein effektives Konzept globaler Gerechtigkeit), kann Klimagerechtigkeit in die Beziehung einbringen, und was Klimagerechtigkeit fehlt (eine Erzählung – einen ‚Frame’ – die im Norden Anklang findet), steuert Degrowth bei. Über diesen strategischen Punkt hinaus bleibt die Tatsache, die Krugman und Anderen so viel Angst macht: Dass beide Bewegungen notwendigerweise zusammenhängen, weil Degrowth im Norden eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung ist für global Klimagerechtigkeit. Da Wirtschaftswachstum so eng an Klimagasausstoß gebunden ist, können südliche Länder nur in Verbindung mit Degrowth im Norden das erhalten, was üblicherweise mit „Recht auf Entwicklung“ bezeichnet wird.
Allerdings entstehen neue Bewegungen oder Bündnisse zwischen Bewegungen nicht von alleine, durch die richtigen Argumente, sondern aus Kämpfen, die gemeinsam ausgefochten werden. So gibt es einerseits eine Bewegung – die globale Klimagerechtigkeitsbewegung –, die nach dem offensichtlichen, nicht ignorierbaren Zusammenbruch der UN-Klimaverhandlungen und der auf diese Verhandlungen ausgerichteten zivilgesellschaftlichen Strategien immer noch nach Kristallisationspunkten, mit anderen Worten: Angriffsflächen sucht. Andererseits gibt es eine potentielle Bewegung – Degrowth- die nach Feldern kollektiver Praxis und Aktion sucht, die dem Wahnsinn von immerwährendem kapitalistischen Wachstum den Kampf anzusagen können – und zwar auf eine effektivere Art und Weise als durch oft individuelle Transformationspraxen, die momentan den größten Raum in der Degrowth-Bewegung einnehmen.
Welchen Kampf könnten sie gemeinsam haben? Eine mögliche Antwort liegt auf der Hand: Der Kampf gegen Fossile Brennstoffe: gegen ihren Abbau, ihre Finanzierung und ihre Firmen. Warum? Zuerst einmal ist es kein Geheimnis, dass fossile Brennstoffe das Herzstück der kapitalistischen Wachstumsmaschine sind, sodass wir in etwas leben, was der Marxist Elmar Altvater „fossilen Kapitalismus“ nennt. Mit Sicherheit können wir uns einen Kapitalismus auf der Basis erneuerbarer Energien vorstellen; allerdings wird der real-existierende Kapitalismus seit 200-250 Jahren von Fossiler Energie angetrieben. Gleichzeitig ist die Verbrennung fossiler Rohstoffe – den Beitrag veränderter Landnutzung zum Klimawandel mal ausgeklammert – die Hauptursache des menschengemachten Klimawandels. Die Degrowth-Perspektive ist allerdings genauso wichtig für Klimagerechtigkeit wie der Kampf gegen fossile Brennstoffe selbst; denn sie bereichert diese Diskussion um einen häufig ignorierten Punkt: Dass nämlich mit Erneuerbaren alleine keine globalisierte Wachstumswirtschaft möglich ist. Kombiniert mit politischer Aktion gegen fossile Energien, stellt diese Kritik die Frage nach gerechter Verteilung begrenzter Ressourcen mit besonderer Dringlichkeit – und könnte sogar dem Anti-Braunkohle-Kampf in Deutschland neuen Schub geben.
So schien es mir auf der Konferenz, als habe die Degrowth-Bewegung „Speed-Dates“ mit anderen Bewegungen (was untermauert, dass sie neue Felder kollektiver Praxis für sich erschließen will: es gab viele Workshops in Richtung „Degrowth +X“, wobei X Feminismus, Klimagerechtigkeit, Care-Ökonomie etc. sein konnte). Dem entgegnete Christopher Laumanns, einer der Organisatoren der Konferenz, auf dem Abschlusspodium, dass Degrowth und Klimagerechtigkeit keine Speed-Dates hätten sondern in Wirklichkeit schon verheiratet seien.
Wenn das so ist, dann lasst uns die Ringe anstecken und gegen die fossilen Energiekonzerne in den Kampf ziehen: Wir könnten nichts Besseres tun, um unsere jeweiligen und gemeinsamen Ziele voranzutreiben. Und wäre es nicht eine wunderbare Hochzeitsreise…..? ------------------------------ 1 Dies meint Überkonsum aus ökologischer Perspektive. Aus politisch-ökonomischer Perspektive ist neoliberale Akkumulation in Wirklichkeit von Unterkonsum geplagt aufgrund von fast 35 Jahren Stagnation oder sogar Rückgang der Realeinkommen. 2 Quelle: persönliches Gespräch mit Tom Goldtooth. -------------------------------
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