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Subsistenz, Zumutbarkeit und Wachstum

28.07.2014

Von Sebastian Thieme

Der Wachstumsdiskurs muss im redlichen Sinne die Gründe erwägen, die für oder gegen Wachstum und bestimmte Wachstumsformen sprechen. Er hat darüber hinaus aber auch unvermeidbares Wachstum zu berücksichtigen und zu klären, wie damit in zumutbarer Weise umzugehen ist. Ich glaube, dass der Begriff der Subsistenz eine Orientierung dazu bietet. Im Beitrag erläutere ich, was ich unter „Subsistenz“ verstehe und welche moralische Bedeutung Subsistenz hat. Schließlich stelle ich einige Bezüge zur Postwachstumsdebatte her.

Begrifflicher Hintergrund

Der Begriff „Subsistenz“ hat eine lange Geschichte, die von Aristoteles über die Lehre der Dreifaltigkeit bis hin zum „right to subsistence“ von Henry Shue reicht. Das Kondensat dieser Entwicklung findet sich in der Selbsterhaltung, im eigenständigen Für-sich-sein bzw. dem Bestehen aus sich selbst heraus (Thieme 2010).

Allerdings ist „Subsistenz“ auch durch die Verwendung im ethnologischen, feministischen, ökologischen oder wachstumskritischen Kontext geprägt. Dort wird er mit verschiedenen Merkmalen aufgeladen (Bedarfsdeckung, Landwirtschaft, Frauenarbeit, Reproduktion, Reziprozität usw.), die über das eigenständige Für-sich-sein hinausreichen, ohne aber zu klären, was eigentlich hinter der „Subsistenz“ steckt. Problematisch ist, dass die Subsistenz in ihrer Bedeutung als elementarer Wirtschaftszweck damit in den Hintergrund rückt.

Subsistenz und Lebensfähigkeit

Wird die Selbsterhaltung darauf reduziert, nur den jeweiligen Lebenszustand aufrecht zu erhalten, dann wären die Menschen zwar zweifelsohne lebensfähig (viabel), aber sie wären nicht wirklich in der Lage, ihre Lebenssituation zu verändern (Selbsthilfe) oder sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Genau das ist aber über die Lebensfähigkeit (Viabilität) hinaus notwendig, um wirklich aus sich selbst heraus bestehen zu können. Letzteres soll nachfolgend als Selbsterhaltung oder Subsistenz bezeichnet werden.

Diese Differenzierung mag abstrakt wirken, vor dem Hintergrund der Sozialstaatsdebatten sollte deren Sinnhaftigkeit jedoch einleuchten. Denn es stellt einen erheblichen Unterschied dar, ob die Sozialtransfers den Individuen nur die Lebensnotwendigkeiten gewährleisten oder ob sie die Individuen darüber hinaus in die Lage versetzen, als mündige und emanzipierte Bürgerinnen und Bürger eigenständige Entscheidungen zu treffen.

Subsistenz als überpositives Moralprinzip

Die Vorstellung darüber, die Selbsterhaltung des Menschen zu beachten, führt geradewegs in ein Subsistenzrecht, das jedem Individuum zusteht und hier als überpositives Moralprinzip zu verstehen ist (siehe hierfür und nachfolgend ausführlich Thieme 2014; 2012). „Überpositiv“ bezieht sich auf den Begriff des „positiven“ (geschriebenen/ kodifizierten) Rechts und bedeutet, dass das zu beschreibende „überpositive“ Moralprinzip diesem vorgelagert ist. Deshalb wäre es ein großes Missverständnis, das hier vorgestellte Subsistenzrecht als gesetztes Recht zu behandeln – es ist hier ausdrücklich als überpositives Moralprinzip gemeint. Im Kern setzt es sich aus den drei folgenden Ansprüchen zusammen:

  1. dem Anspruch auf die unmittelbare Erhaltung der Existenz in einer Gesellschaft (Viabilitätserhaltung)
  2. dem Anspruch auf Möglichkeiten, sich (selbst) zu verändern bzw. an eine sich verändernde Umwelt anzupassen (Selbsthilfe und Subsistenzerhaltung)
  3. dem Anspruch darauf, dass im Falle der Einschränkung des Subsistenzstrebens, diese Einschränkung zumutbar sein muss und daher einer ethischen Legimitation durch einen einvernehmlichen Diskurs bedarf (siehe dazu auch die Legitimation in der Integrativen Wirtschaftsethik nach Peter Ulrich 2008, 2000).

Die Viabilitätserhaltung (Anspruch 1) bildet das Mindestkriterium für soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die anderenfalls nicht zumutbar und damit ethisch (im Sinne der Integrativen Wirtschaftsethik) auch nicht legitimierbar wären.

Der darüber hinaus reichende Anspruch auf Subsistenzerhaltung (2) ermöglicht es den Individuen, einander als mündige Akteure gegenüberzutreten. Nur so sind sie in der Lage, aus dem Schatten lebensfähiger (viabler) Regelmechanismen herauszutreten und eigene Entscheidungen zu treffen.

Mit dem Anspruch auf ethische Legitimation (3) ist zunächst darauf aufmerksam zu machen, dass das menschliche Subsistieren immer durch den sozialen Kontext, in den der Mensch hineingeworfen ist, beschränkt wird (Scott 1976: 9, 166; Habermas 1958). Dieser soziale Kontext umfasst informelle Regeln (Bräuche usw.) und Gesetze, aber ebenso die konkreten Handlungsabsichten einzelner Personen. Daraus folgt erstens, dass jene, die sich mit einer Handlungsabsicht tragen, in der ethischen Verpflichtung stehen, ihre Handlungsabsichten gegen das legitime Subsistenzinteresse Dritter zu prüfen: Schränkt diese Handlungsabsicht das Subsistieren Dritter ein? Wenn ja, würde ich – in der Situation der betroffenen Person – meine beabsichtigte Handlung akzeptieren? Wäre diese Handlung also zumutbar? Zweitens bedeutet der Anspruch auf ethische Legitimation spiegelbildlich dazu für jene, die von solchen Einschränkungen konkret betroffen sind, eine entsprechende Prüfung einfordern zu können. Einfacher ausgedrückt verbürgt der Anspruch auf ethische Legitimation, angehört zu werden und substanziell mitentscheiden zu dürfen.

Der öffentliche Diskurs zielt darauf ab, zu verhindern, dass das ethisch legitime Subsistenzinteresse Dritter falsch interpretiert oder ignoriert wird. Das Einvernehmen soll dafür sorgen, die Einschränkungen im Subsistieren zumutbar zu halten.

Der Anspruch auf ethische Legitimierbarkeit bedeutet aber auch, dass jene Handlungsabsichten, die nicht ethisch legitimiert wurden, von den betroffenen Personen als „ethisch nicht legitim“ ignoriert werden können. Dabei sind sie natürlich ebenfalls an die ethische Legitimierbarkeit gebunden, d. h. die Prüfung der Handlungsabsichten gegenüber dem Subsistenzinteresse Dritter. Brach liegende Ackerflächen mögen in den Augen einer hungernden Landbevölkerung zu Recht als ethisch fragwürdig kritisiert werden, doch die Besetzung dieser Landflächen ist dadurch nicht automatisch ethisch legitim! Die ethische Legitimierbarkeit gilt damit auch für aktive und passive Widerstandsformen.

Subsistenzrecht und Mit-Verantwortung

Selbst wenn über die Beeinträchtigung der Selbsterhaltung von Dritten nachgedacht wird, ist nicht auszuschließen, dass das eigene Tun ungeahnte Folgen haben kann, die bei dieser Reflexion naturgemäß unberücksichtigt bleiben. Diese ungeahnten Folgen könnten aber das legitime Subsistenzinteresse Dritter in unzumutbarer Weise einschränken, so dass die ethische Legitimität des ursprünglichen Handelns dann in Frage steht. Es ist davon auszugehen, dass unter Kenntnis solcher unzumutbaren Folgen solche Handlungen gar nicht legitimierbar wären. Problematisch ist, dass wir praktisch immer mit dieser Situation konfrontiert sind: Aber wie lässt sich dann überhaupt ethisch legitim handeln, wenn wir nicht sicher kein können, dass unsere Handlungen unvorhersehbare und unzumutbare Folgen haben kann?

Die Antwort findet sich gemäß der Integrativen Wirtschaftsethik darin, ein zumutbares Maß an Mitverantwortung für diese unvorhersehbaren und/oder nicht zurechenbaren Folgen zu übernehmen. Wer diese Mitverantwortung nicht zu tragen bereit ist, nimmt billigend in Kauf, dass Dritte in unzumutbarer Weise durch nicht vorhersehbare Folgen geschädigt werden. Doch wie lässt sich diese Mitverantwortung konkret umsetzen?

Das hier vorgestellte Subsistenzrecht als Moralprinzip bietet eine Möglichkeit. Im Kontext der Mitverantwortung bedeutet es nichts anderes, als dafür zu sorgen, dass Dritte trotz und wegen der Einschränkungen, die aus den unvorhersehbaren und vielleicht auch nicht immer eindeutigen zurechenbaren Folgen von Handlungen resultieren, subsistieren können. Es ist also zu garantieren, dass Betroffene nicht auf die reine Lebenserhaltung zurückgeworfen werden und in die sprichwörtliche Hilflosigkeit fallen. Das Subsistenzrecht steht deshalb für eine Mindestanforderung an die ethische Legitimierbarkeit von Handlungsabsichten: Wenn ich nicht bereit bin, diese beschriebene Mitverantwortung zu tragen und aus ihr heraus Dritten ein Subsistenzrecht zu garantieren, dann sind meine Handlungsabsichten auch nicht ethisch legitimierbar.

Abschließende Gedanken

Ein Beitrag wie dieser kann keine erschöpfende Erörterung zur Subsistenz leisten, die dann z. B. die Diskussion von Phänomenen wie z. B. „land grabbing“, bedingungsloses Grundeinkommen, Hartz IV oder „guerilla gardening“ umfassen würde. Dies muss an anderer Stelle fortgesetzt werden (Thieme 2014; 2013; 2012). Stattdessen möchte ich mit folgenden Überlegungen enden.

Erstens: Der Begriff „Subsistenzwirtschaft“ wirkt in seiner üblichen Verwendung (landwirtschaftliche Selbstversorgung) missverständlich. Denn letztlich muss jeder Mensch in jeder Gesellschafts- und Wirtschaftsform subsistieren, was in der Debatte um alternative Wirtschaftsformen, Sozialstaat usw. häufig nicht deutlich genug artikuliert wird.

Zweitens: Die vorherrschende Ökonomik hätte zwar auch (ökonomisch) gute Gründe, die Subsistenz zu beachten. Oft wird sie jedoch nicht berücksichtigt, was zu erheblichen Widersprüchen führt (ohne Subsistenz keine Produktion, keine Nachfrage, kein Markt). Als Folge werden u. a. niedrige Löhne (Lohnspreizung) als wirtschaftsförderlich gefordert, wobei in Kauf genommen wird, dass diese nicht existenzsichernd sind. Die Erfahrung zeigt zudem, dass ökonomische Empfehlungen der Subsistenz auch ganz bewusst entgegenstehen können, wenn z. B. die persönliche Notlage zum Motor des Arbeitsmarktes instrumentalisiert wird.

Drittens: Subsistenz und Wachstum sind keine Widersprüche. Subsistenz ist die Voraussetzung für Wachstum. Auch das wird häufig nur auf der Unternehmensebene diskutiert, nicht aber mit Blick auf die Individuen.

Viertens: Subsistenz bedeutet, auch über zumutbare Grenzen des Wachsens nachzudenken. Im Sinne der Integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich heißt das, eine Kultur des Genug-haben-Könnens zu praktizieren. Selbsterhaltung und Selbstbegrenzung stehen damit in einem wichtigen Zusammenhang.

Fünftens: Aus subsistenzethischer Sicht bedeutet das Reflektieren über Grenzen des Wachstums, Wachstum nicht kategorisch auszuschließen. Einerseits lässt sich nicht immer vermeiden, dass wir mehr produzieren, als wir zur Selbsterhaltung benötigen (Stichwort: Mehrwert). Worauf es dann ankommt, das sind Verteilungsfragen. Andererseits kann Wachstum auch ethisch geboten sein. Es spricht nichts dagegen, knappe Ressourcen in zumutbarer und nachhaltiger Weise so zu nutzen, dass möglichst viele Individuen davon profitieren können oder möglichst viel Leid gemildert wird. Damit ist ausdrücklich kein Persilschein für einen ignoranten Wachstumswahn gemeint. Es geht nur darum, nicht die eine Ideologie (Grenzenloses Wachstum) durch eine andere Ideologie (Kategorische Wachstumsverweigerung) auszutauschen.

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Literatur zur Vertiefung

Habermas, Jürgen (1958): Philosophische Anthropologie (ein Lexikonartikel), in: Habermas, Jürgen (Hrsg.) (1973): Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 89–117.

Scott, James C. (1976): The Moral Economy of the Peasant. New Haven, London: Yale University Press.

Shue, Henry (1996): Basic Rights. Zweite Auflage, Princeton und New Jersey: Princeton University Press

Thieme, Sebastian (2014): Subsistenz, Viabilität und Sozialstaat. Grundzüge einer Subsistenzethik. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik. Jg. 15, Heft 2 [im Erscheinen].

Thieme, Sebastian (2013): Grundeinkommen und Selbsterhaltung. In: Forschungsseminar Politik und Wirtschaft Leipzig [Hrsg./ Ed.]: Booms and Bursts. Marburg, S. 47-81, 2013.

Thieme, Sebastian (2012): Das Subsistenzrecht – Begriff, ökonomische Traditionen und Konsequenzen. Marburg: Metropolis.

Thieme, Sebastian (2010): Subsistenz: Geschichte, Bedeutung und Rekonstruktion des Subsistenzbegriffes, in: MPRA Paper, Nr. 24553, Link: http://mpra.ub.uni-muenchen.de/24553/ [zuletzt abgerufen am: 28.04.2013].

Ulrich, Peter (2000): Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagenreflexion der ökonomischen Vernunft. In: Ethik und Sozialwissenschaften (EuS), Jg. 11, Heft 4, S. 555ff.

Ulrich, Peter (2008): Integrative Wirtschaftsethik. Vierte Auflage. Bern, Stuttgart und Wien: Haupt.

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