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Wirtschaftswachstum steht einem guten Leben für alle entgegen

Author:
Matthias Schmelzer

Entry type:

Year of publication:
2016

Publishers:
Degrowth.de Blog

Language:
Deutsch

External content:
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Aktuell gibt es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Kontroverse zu Wachstumskritik. Vor einer Woche hat Rainer Hank unter dem Titel „Wachstum im Schneckentempo ist in" in der FAZ einen sehr kritischen Beitrag zur „Degrowth-Bewegung" geschrieben. Darauf antwortete Matthias Schmelzer in einer Replik, die in gekürzter Fassung am 23. Oktober 2016 in der Frankfurter Sonntagszeitung erschienen ist und die wir hier ungekürzt veröffentlichen.




Ob Journalisten oder Politikerinnen: Auf Wachstumskritik wird allergisch reagiert. Argumente spielen dabei kaum eine Rolle, vielmehr geht es um Vorurteile und Ängste. Dabei gibt es gute Gründe für eine Zukunft jenseits des Wachstums.


In seinem Beitrag schreibt Rainer Hank nicht nur, Wachstumskritik habe sich als Selbstverständlichkeit durchgesetzt. Sondern auch, Wachstumskritik sei fortschrittsfeindlich, ein unnötiges Luxusphänomen, habe keine Argumente auf ihrer Seite und scheitere daran, dass sie gegen „die menschliche Natur" ankämpfe.

Wir im Konzeptwerk Neue Ökonomie arbeiten aus wachstumskritischer Perspektive zu den Möglichkeiten einer sozial-ökologischen Transformation. Wir tun dies aus der Überzeugung, dass weiteres Wirtschaftswachstum der reichen Länder kein gutes Leben ermöglicht, sondern diesem entgegensteht. Denn Analysen zeigen: Von Wachstum profitieren vor allem die Reichsten, während es gleichzeitig krasse Armut und Ausgrenzung schafft und die ökologischen Grenzen des Planeten massiv überschreitet. Degrowth oder Postwachstum steht nicht für Verzicht und Rückschritt, sondern für progressive Alternativen zum Wachstumsdiktat.


 Die Vorherrschaft des Wachstumsparadigmas

Wir leben in einer kapitalistischen Wachstumsökonomie. Dass weiteres Wirtschaftswachstum möglich, wünschenswert und sogar notwendig ist, gehört zu den ideologischen Grundfesten dieser Gesellschaften. Wenn das so genannte Bruttoinlandsprodukt wächst, wird applaudiert. Wenn nicht, wird alles getan, um dies zu ändern (erinnern wir uns an die Abwrackprämien in der Weltwirtschaftskrise vor einigen Jahren).


Wirtschaftswachstum soll nicht nur ökonomische Probleme wie Schulden oder mangelnde Arbeitsplätze lösen, sondern auch soziale Probleme wie Ungleichheit oder fehlende Kindergartenplätze. Viele hoffen sogar, dass durch Energiewende und technische Innovationen „grünes Wachstum“ auch die ökologischen Probleme löst. Stagnation bedeutet hier soziale Krise: Arbeitslosigkeit, Haushaltsdefizite, Armut.


Alle Parteien – auch die von Hank genannten Grünen – setzen auf weiteres Wirtschaftswachstum. Viele hoffen sogar, dass durch Energiewende und technische Innovationen „grünes Wachstum“ auch die ökologischen Probleme löst.


“Ohne Wachstum ist alles nichts” ist also die Schlüsselideologie kapitalistischer Gesellschaften. Der Glaube der expansiven Moderne ist ungebrochen: Wachstum gilt als Allheilmittel und als universeller Maßstab für Fortschritt, Modernität und Entwicklung. Aber ist das wirklich so? Und gibt es Alternativen?



Die schrumpfenden Vorteile des Wachstums


Hank behauptet, Wachstum sei zentral für das Prosperieren der Gesellschaft und das BIP sei „bis heute das geeignetste Maß für den Wohlstand einer Nation und ihrer Menschen“. Diese Behauptung ist ausgesprochen fragwürdig: Nicht einmal die Erfinder des BIP in den 1930er Jahren teilten diese Auffassung. Und Ökonomen, Regierungen und internationale Organisationen arbeiten seit Jahrzehnten an besseren Wohlstandsindikatoren, weil die Fixierung auf das BIP die ökologischen und sozialen Folgekosten von Wachstum weit an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins drängt.


Als einzigen Beweis führt Hank die Korrelation zwischen Lebenserwartung und BIP pro Kopf an. So wichtig diese Korrelation ist, so wenig hat sie mit Wachstumskritik zu tun. Keiner bestreitet, dass Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit (Stichwort 1800) und in weniger reichen Ländern (China) mit zunehmendem Wohlstand der unteren und mittleren Klassen zusammenhängt. Degrowth bestreitet aber, dass das bis in alle Ewigkeit so weitergehen kann.


Das hat mehrere Gründe: Zahlreiche Studien zeigen, dass der Grenznutzen jedes weiteren Euros mit zunehmendem Wohlstand deutlich abnimmt, die Kosten von Wachstum hingegen steigen. Ab einem bestimmten Einkommensniveau – und dieses haben die meisten Menschen in Westeuropa in den 1980er Jahren erreicht – endet der Zusammenhang: Trotz Wirtschaftswachstums stagniert die Lebenszufriedenheit – oder sinkt sie sogar.


Ein wichtiger Grund ist die zunehmende Ungleichheit. Denn von den Einkommensgewinnen der letzten 25 Jahre – die Hank undifferenziert als „gigantischen Wachstumserfolg“ feiert – haben de facto nur wenige profitiert. Die reichsten fünf Prozent haben sich die Hälfte des Einkommensgewinns angeeignet. Inzwischen besitzen 62 Menschen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Gleichheit und ein gutes Sozialsystem sind kein natürliches Anhängsel des Wirtschaftswachstums, sondern das Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe und politischer Aushandlungsprozesse.



Wachstum = Fortschritt?


Indem Hank in Bezug auf die zunehmende Kritik an Wachstum lamentiert, „der Fortschritt hat kaum noch Freunde“ offenbart er eine weit verbreitete Weltsicht: Fortschritt sei immer und überall das gleiche wie BIP-Wachstum. Aber vielleicht steht das Festhalten am Wachstum ja einem wirklichen Fortschritt – hin zu einer gerechten, sozialen und ökologischen Welt entgegen.


Hank preist die Vorteile des Wachstums, in dem er auf viel ärmere Länder oder auf eine Vergangenheit in Holzhütten verweist. Aber China ist nicht Deutschland. Wenn das Wachstum der letzten Jahrzehnte in China das Leben von Millionen von Menschen verbessert hat, heißt das nicht, dass das gleiche in Deutschland passiert ist. Und 1800 ist nicht heute. Natürlich gehen Wachstumskritikerinnen vom heutigen Wohlstand und dem damit einhergehenden Ressourcenverbrauch aus und hätten 1800 kein Degrowth gefordert.


Hank behauptet, Wachstumskritiker hätten „einen mechanistisch und materialistisch eng geführten Begriff des Wachstums.“ Im Gegenteil: Wachstumsgegnerinnen sind nicht per se gegen Wachstum, sondern differenzieren zwischen wünschenswertem und abzulehnendem Wachstum. Zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Gesunheitssystem in den USA und Schweden lässt sich nicht mit der Höhe des BIP erklären. Vielleicht ist eher ein Fortschrittsbegriff mechanistisch und materialistisch eng geführt, der diesen auf ein ansteigen des BIP reduziert.



Die Illusion grünen Wachstums


Unendliches Wachstum ist auf einem endlichen Planeten nicht möglich. Denn Wachstum basiert immer auf menschlicher Arbeit und dem Verbrauch von begrenzten Ressourcen. Auch wenn technische Innovationen, erneuerbare Energien und der Übergang zur Dienstleisungsgesellschaft zu einer gewissen relativen Entkopplung von Resourcenverbrauch und Wachstum geführt haben, hat sich daran grundsätzlich nichts geändert. Bisher geht Wachstum immer mit steigendem Ressourcenverbrauch einher.


 Das gilt auch für Apple und Google, zwei der „wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt“, die Hank als ökologisch unproblematisch feiert („Da pufft und stinkt gar nichts“). Genau auf diese Blindstellen der Wachstumsenthusiasten macht die Degrowth-Bewegung aufmerksam: Denn wir leben nicht in einer Welt, in der iPhone-Chips aus dem Sand der Strände von San-Francisco gewonnen und von gut bezahlten Beschäftigten zu Handys weiterverarbeitet werden. Stattdessen braucht das Geschäftsmodell von Apple seltene Erden, deren Abbau mit Verwüstung und Vertreibung einhergeht. Es treibt den Energieverbrauch der Informations- und Kommunikationstechnologien massiv voran (schon fast ein Fünftel des Gesamtstrombedarfs) und basiert auf miserablen Arbeitsbedingungen und auf Ausbeutung. Hank liefert ein perfektes Beispiel für die Illusion einer „grünen, entwickelten Wirtschaft“, die alles, was „pufft“, dahin verschiebt, wo es nur andere trifft. Und dann so tut, als stinke es nicht.


Die Degrowth-Bewegung ist nicht gegen erneuerbare Energien und Effizienzpolitik, sondern sie weist darauf hin, dass in einer Welt mit steigendem Wirtschaftswachstum diese technologiefixierten Strategien nicht ausreichen. Besonders dann, wenn allen Menschen ein ähnlicher Lebensstandard ermöglicht werden soll, ohne den Planeten zu zerstören.


  Globale Gerechtigkeit fängt hier an

Wachstumskritikerinnen sind nicht gegen eine offene, kosmopolitische, urbane Gesellschaft, wie Hank behauptet. Im Gegenteil: Es geht um die Begrenzung der Kapital- und Warenströme (TTIP lässt Grüßen). Und um die Ausweitung der Bewegungsfreiheit von Menschen.


Es sind ja genau die Folgen der rücksichtslosen kapitalistischen Wachstumsökonomie, die viele Menschen zu Flucht und Migration zwingen. Wie es von Geflüchteten immer wieder heißt: Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört. Und zwar nicht nur mit Waffen (das ist ja immer auch eine der Schattenseiten des deutschen Exportweltmeisters). Sondern auch mit den Folgen des Wohlstandsmodells der globalen Konsumentenklasse. Genau diese exklusive Wachstumslogik – wir steigern unseren Wohlstand, auch auf Kosten der anderen, aber das Boot ist voll – macht Zäune und Mauern um die Festung Europa erst notwendig. Und diese gilt es zu überwinden.


Degrowth ist nicht Verzicht und Rückschritt

Degrowth ist eine Provokation. Genauso wie das Symbol der Schnecke. Eine Provokation gegen eine Gesellschaftsordnung, in der alle miteinander konkurrieren, in der es nur ums Höher, Schneller, Weiter geht und die unsere Lebensgrundlagen zerstört. Hank schreibt: „Doch ihr Rigorismus des Verzichts kämpft gegen die eigene menschliche Natur als ihren Feind.” Bei Degrowth geht es genau darum, diese Weltsicht zu hinterfragen, dass “die menschliche Natur” der Homo oeconomicus sei, der individuell versucht seinen Nutzen zu maximieren. Im Gegenteil: Menschen sind Beziehungswesen, die von komplexen Motivationen getrieben werden. Und bei Degrowth geht es darum, die Beziehungsformen anzuerkennen und zu ermöglichen, die nicht der utilitaristischen, beziehungslosen Logik des Monetären folgen.


Degrowth ist aber auch ein Vorschlag. Nicht für individuellen Verzicht, sondern für eine Transformation der reichsten Gesellschaften hin zu Strukturen, die nicht auf permanente Steigerung angewiesen sind. Auch wenn Hank so tut, als wäre Wachstumskritik eine Querfront, die von Rechts- bis zu Linkspopulisten reiche: Degrowth steht für eine emanzipatorische, herrschaftskritische und inklusive Zukunft.

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