Ein Interview mit dem Siemens-Betriebsrat Thomas Clauß zu den Plänen des Konzerns, trotz Rekordgewinnen massiv Stellen abzubauen. 2017 verkündete Siemens 6,3 Milliarden Euro Gewinn nach Steuern. Rund eine Woche später kündigte die Konzernführung an, weltweit rund 6900 Jobs streichen zu wollen. Deutschlandweit sollen 3300 Stellen gestrichen werden, die Werke in Görlitz und Leipzig sollen geschlossen werden. Siemens begründet diese Pläne mit den Anforderungen der Energiewende: die Kraftwerkssparte habe ein Problem. Thomas, Du bist Betriebsrat im Leipziger Werk. Wie siehst Du die Situation? Das Unternehmen hier existiert seit knapp 120 Jahren, wir stellen Verdichter her. Seit 2006 gehören wir zu Siemens. Bei Siemens sind wir, wie auch der Kraftwerksbau, in der Division „Power & Gas“ angesiedelt. Dabei sind unsere Kunden vor allem in der Chemiebranche und der Stahlindustrie. Nur vier unserer letzten 160 Projekte waren im Kraftwerksbereich – und das war sogar betriebsintern, da war „Siemens Kraftwerke“ unser Kunde. Deshalb trifft die Begründung auf uns nicht zu. Siemens verkauft das in der Öffentlichkeit natürlich trotzdem so, weil es schön nachvollziehbar ist: „Die Politik nötigt uns zu einer Energiewende und wir müssen darauf reagieren.“ Unser Divisionschef Willi Meixner war letzte Woche hier und hat vor der Belegschaft die Begründung geändert. Er meinte in Zukunft solle es nur noch ein Werk für Verdichter in Europa geben – in Duisburg. Dorthin soll unser Geschäft verlagert werden. Da entstehen aber dann nicht Arbeitsplätze im gleichen Maß wie hier abgebaut werden sollen? Nein. Hier sollen 220 Arbeitsplätze abgebaut werden, wir sprechen aber von 270, weil wir die Azubis und Leiharbeiter mitdenken. In Duisburg soll es davon noch knapp 100 Arbeitsplätze geben. Das Traurige daran ist, dass selbst diese 100 sich nicht halten werden, weil die Verlagerung des Geschäfts nicht funktionieren wird. Wir bedienen eine Nische, die für das Duisburger Werk nicht attraktiv ist, die Aufträge sind zu klein. Das müssen wir Siemens zeigen, dass die aktuellen Pläne nur Verlierer produzieren. Warum dann diese Schließungspläne? Wenn der Betrieb profitabel ist, eine eigene Nische bedient, die Energiewende nicht der Grund ist? Das Duisburger Werk ist nach massiven Investitionen unterausgelastet. Dafür soll Leipzig geschlossen werden. Das wäre aber, selbst wenn die Verlagerung gelingen würde, für Duisburg nur ein Tropfen auf den heißen Stein: das Werk ist sieben Mal so groß wie unseres. Das löst dort kein einziges Problem. Jetzt sprechen wir über die Standorte und die Görlitzer hatten ja auch ein Transparent auf dem stand „Warum Görlitz, Herr Kaeser?“ [Joe Kaeser ist der Vorstandsvorsitzende von Siemens]. Lässt sich da nicht die Belegschaft gegeneinander ausspielen? Sollte man bei einem Konzern, der letztes Jahr nach Steuern 6,3 Mrd Euro Gewinn gemacht hat, nicht mehr darauf pochen, dass es nicht sein kann, dass eine Woche nach dem Verkünden dieser Gewinne Schließungspläne präsentiert werden? Ja, die Debatte wird auch geführt, die läuft im Gesamtbetriebsrat. Dort sprechen wir auch alle die gleiche Sprache, haben das gleiche Grundgefühl, dass hier irgendwas grundlegend schief läuft. Aber es ist leider auch zu sehen, dass gegensätzliche Interessen im Spiel sind. Wir sind alle Realisten und überlegen im Hinterkopf, was gegenüber dem Konzern durchsetzbar ist – und alle wollen für ihre Belegschaft das Maximale rausholen. Dann ist es schwierig zu sagen, „wir haben den Gegner nicht in den eigenen Reihen sitzen“, ein gemeinsames Konzept zu finden – und das große Ganze komplett infrage zu stellen. Wenn Du sagst, „wir haben den Gegner nicht in den eigenen Reihen sitzen“ - gibt es denn einen Gegner? Die Vorstandsspitze? Die Aktionär*innen? Ja, Gegner klingt sehr negativ, im Prinzip ist es ja ein Partner, das ist ja über das Betriebsverfassungsgesetz geregelt. Wir haben aber eine grundlegend unterschiedliche Auffassung davon, was das Problem ist und wie man dem begegnen sollte. Wir als Arbeitnehmervertreter müssen aber auch mit dem Blick eines Unternehmers auf die Situation schauen. Ich glaube z.B. nicht, dass das Unternehmen Verantwortung für die Region hat, wie das von den Kollegen in Görlitz betont wird. Die Verantwortung liegt bei der Politik. Natürlich hat das Ganze auch eine moralische Dimension: Bei 6,3 Mrd Euro Gewinn können wir von Siemens mehr Fantasie und Mut zu einer visionären Entscheidung erwarten. In unserer Division steht der Wandel ja erst noch bevor. Bis dahin sollten wir mit klugen Köpfen und Investitionen an Alternativen für die Branche arbeiten. Wir negieren ja nicht, dass keine neuen fossilen Kraftwerke gebaut werden – dem müssen wir uns stellen, aber auf eine andere Art und Weise. Das Management trifft Entscheidungen, die entstehen, wenn man in 10.000m Höhe über Leipzig und Görlitz hinweg fliegt und sich nicht die Mühe macht, für 270 Mitarbeiter und 50 Mio Euro Jahresumsatz sich den Standort genau anzuschauen. Angeblich haben sie sich ja jahrelang über die Pläne Gedanken gemacht, aber hier war nie jemand vor Ort. Das ist erschreckend, dass 270 Leute so wenig zählen. Aber ist das nicht ein strukturelles Problem, die 10.000m Flughöhe, nämlich dass das Management völlig andere Interessen hat, wie die Gewinne zu erhöhen und die Aktionäre zu befriedigen? Das muss man unterstellen. Wenn es anders wäre, wäre Herr Meixner nicht erst nach Veröffentlichung der Pläne das erste Mal hier gewesen und hätte mehr über Leipzig gewusst – statt die Entscheidung zu treffen, ohne auch nur die Manager-Ebenen unter ihm einzubeziehen. Das ist schon, wie wenn ein Richter ein Todesurteil fällt, ohne die Akte zu lesen. Geht die Konzernspitze mit einer Maximalforderung rein, um sich dann auf einen Kampf einzulassen, ist das ihre Strategie? Das spielt bestimmt eine Rolle. Aber die Maximalforderung der Standortschließung ist ein starkes Stück, weil Siemens ja eine Zukunftsvereinbarung mit der IG Metall und den Arbeitnehmervertretern abgeschlossen hat, die genau das ausschließt. Es gibt zwar Öffnungsklauseln in der Vereinbarung, z.B. eine existentielle Krise des Unternehmens, aber davon kann hier nicht die Rede sein. Rund die Hälfte der Stellen soll ja im Ausland abgebaut werden. Habt Ihr Kontakte zu den Leuten in den anderen Ländern? Wird das auch als globaler Arbeitskampf gesehen? Das läuft im europäischen Betriebsrat zusammen, von dem ich weiß, dass da zurzeit auch alle Sturm laufen. Aber wirklich transparent ist das Ganze nicht. Die Lage der verschiedenen Betriebsräte – in Spanien, Polen, den Niederlanden – ist auch echt unterschiedlich. Es gibt gegenseitige Solidaritätsbekundungen, aber von einer konzertierten Aktion sind wir leider weit entfernt. Das liegt auch an der Konzernstruktur mit den verschiedenen Betriebsrat-Ebenen – und da wird auch von Unternehmensseite genau aufgepasst, dass sich jeder in seinem gesetzlich festgeschriebenen Feld bewegt. Görlitz, Leipzig, sollen diese Werke geschlossen werden, weil sie im Osten sind? Naja, wir werden erst seit 2017 nach dem Tarif Ost bezahlt, der nun schrittweise erreicht werden sollte, vorher waren wir deutlich unter Tarif bezahlt. Nach dieser Entscheidung sollen wir nun platt gemacht werden. Da spielt natürlich eine Rolle, dass hier keine Altersvorsorge angeboten wird und dass die Abfindungen im Osten ein Bruchteil von denen im Westen sind. Ihr arbeitet nun auch an Konzepten, wie der Betrieb nochmal anders aufgestellt werden kann. Genau. Wir sind zweigleisig unterwegs: Erstmal mussten wir erreichen, dass Siemens überhaupt auf Augenhöhe mit uns spricht. Deshalb auch die Kampagne „Siemens bleibt in Plagwitz!“, damit der Konzern merkt, dass er eine Tochter nicht einfach so schließen kann. Die Kampagne läuft gut, wir haben viel Unterstützung aus dem Kiez, von Künstlern, sogar vom Wagenplatz gegenüber, da hängt jetzt unser Transparent. Auf der anderen Seite sind wir mit Siemens im Wettbewerb um das bessere Konzept. Wir müssen dem Herrn Meixner ein besseres Konzept zur Lösung seiner Probleme vorlegen, als er es bisher hat. Das können wir als Betriebsrat nicht alleine, aber wir können uns externen Sachverstand holen, den der Arbeitgeber bezahlen muss. Das haben wir vor drei Wochen getan. Nun gucken wir, wo wir was verbessern können, effizienter werden können – und wo die Reise in 10 bis 15 Jahren hingehen soll. Inwiefern spielt da die Energiewende eine Rolle? Die ist insofern entscheidend, weil sich unsere Kunden daran orientieren müssen, weil Siemens sich daran orientieren muss. Wasserstoff z.B. wird als Energieträger an Bedeutung gewinnen, Gas gegenüber der Kohle auch, und Energieeffizienz wird immer wichtiger. Da haben wir Stärken, da unsere Anlagen besonders effizient sind und weil wir Einzelanlagenbauer sind, uns also besonders schnell auf ändernde Kundenwünsche einstellen können – und für eine dezentrale Energieversorgung die entsprechenden kleineren Anlagen herstellen können. Kann es auch ein selbstverwalteter Betrieb werden? Das ist schwierig, weil Siemens viele Funktionen wie die Buchhaltung, das Personalwesen, die Technologietools zentralisiert hat. Das alles aufzubauen, wäre zu kostenintensiv. Wünscht Ihr Euch Unterstützung von sozialen Bewegungen, Parteien, Anwohner*innen? Die Unterstützung im Kiez ist, wie gesagt, richtig klasse. Von der Politik her hilft es uns, wenn dieser Konflikt in die breite Masse getragen wird. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht von Parteien benutzt werden. Ich würde es auch gutheißen, wenn das Land Sachsen hier bei Neuinvestitionen etwas dazuschießen würde, weil es uns helfen würde. Aber ich hätte ein schlechtes Gefühl dabei, denn warum sollte ein Land einspringen, wenn Siemens Milliarden verdient? Als gesellschaftskritischer Mensch würde ich mich fragen, was hier eigentlich grundsätzlich falsch läuft. Aber ist die Verkündung von 6,3 Mrd Gewinn und direkt danach der Verkündung von massivem Stellenabbau nicht sowieso eine Situation, in der grundsätzlich was falsch läuft? Naja, ich weiß nicht, ob wir das so beurteilen können. Der Zeitpunkt ist absolut dämlich und zeigt, wie wenig Verbundenheit zu den Menschen da oben in diesen Kreisen herrscht. Es ist ja z.B. auch normal, in Vollzeitäquivalenten zu rechnen, aber das hat doch nichts auf Folien zu suchen, die ich den Mitarbeitern zeige. Das sagt doch: ‚Für mich bist Du ein Vollzeitäquivalent‘. Auf der Sachebene lässt sich das alles auseinandernehmen, aber dass das am Ende alles mit Menschen und Wertschätzung und Würde zusammenhängt, geht im Kapitalismus vollkommen unter.
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