Von Niko Paech
Die Legende vom Green Growth beruht auf drei simplen Grundprinzipien: (1) Steigerungen der Ressourceneffizienz, (2) geschlossene Stoffkreisläufe und (3) regenerative Energien. Doch trotz eines Trommelfeuers an Klimaschutzinnovationen nahmen und nehmen die ökologischen Schäden im Energiebereich stetig zu. Die ökologische Modernisierung offenbart sich als Geschichte des technologischen Scheiterns sowie der räumlichen, zeitlichen oder systemischen Verlagerung von Umweltschäden.
Hinzu kommt, dass selbst jene gesellschaftlichen Nischen, in denen Ende der Siebziger und Anfang der Achtzigern progressiv-ökologische Lebensstile aufkeimten, längst unter einer Flut der materiellen Aufrüstung, Digitalisierung, Einwegvermüllung und – vor allem des Flugverkehrs - versunken sind.
Gleichzeitig werden allerorten neue Rekorde verzeichnet, was die Anzahl der Veranstaltungen, Begegnungen, Netzwerke, Initiativen oder Projekte mit Nachhaltigkeitsanspruch anbelangt. Klimaschutz hat bislang nur auf der Ebene reiner Symbolik stattgefunden. Klimaschutzkompatible Lebensstile werden nicht einmal dort praktiziert, wo davon am lautesten die Rede ist.Zuwächse des Bruttoinlandsproduktes (BIP) setzen zusätzliche Produktion voraus, die als Leistung von mindestens einem Anbieter und zu einem Empfänger übertragen werden muss und einen Geldfluss induziert. Der Wertschöpfungszuwachs hat somit eine materielle Entstehungsseite und eine finanzielle Verwendungsseite des zusätzlichen Einkommens. Beide Wirkungen wären ökologisch zu neutralisieren, um die Wirtschaft ohne Verursachung zusätzlicher Umweltschäden wachsen zu lassen. Das heißt, selbst wenn sich die Entstehung einer geldwerten und damit BIP-relevanten Leistungsübertragung technisch jemals entmaterialisieren ließe – was mit Ausnahme singulärer Laborversuche bislang nicht absehbar ist –, bliebe das Entkopplungsproblem solange ungelöst, wie sich mit dem zusätzlichen Einkommen beliebige Güter finanzieren lassen, die nicht vollständig entmaterialisiert sind. Beide Seiten sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden.
Wie müssten Güter beschaffen sein, die als geldwerte Leistungen von mindestens einem Anbieter zu einem Nachfrager übertragen werden, und deren Herstellung, physischer Transfer, Nutzung und Entsorgung jedoch aller Flächen-, Materie- und Energieverbräuche enthoben sind? Bisher ersonnene Green Growth-Lösungen erfüllen diese Voraussetzung offenkundig nicht, ganz gleich ob es sich dabei um Passivhäuser, Elektromobile, Ökotextilien, Photovoltaikanlagen, Bio-Nahrungsmittel, Offshore-Anlagen, Blockheizkraftwerke, Smart Grids, solarthermische Heizungen, Cradle-to-cradle-Getränkeverpackungen, Carsharing, digitale Services etc. handelt. Nichts von alledem kommt ohne physischen Aufwand, insbesondere neue Produktionskapazitäten und Infrastrukturen aus.
Könnten die grünen Effizienz- oder Konsistenzlösungen den weniger nachhaltigen Output nicht einfach ersetzen, anstatt eine materielle Addition zu verursachen? Um eine ökologisch entlastende Substitution zu erwirken, reicht es nicht aus, Outputströme zu ersetzen, solange dies mit zusätzlichen materiellen Bestandsgrößen und Flächenverbräuchen erkauft wird (wie bei Passivhäusern oder Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien). Die bisherigen Kapazitäten und Infrastrukturen müssten zudem beseitigt werden. Aber wie könnte die Materie ganzer Industrien und Gebäudekomplexe ökologisch neutral verschwinden?
Hinzu kommt ein zweites Dilemma: Wie kann das BIP dauerhaft wachsen, wenn jedem grünen Wertschöpfungsgewinn ein Verlust infolge des Rückbaus alter Strukturen entgegenstünde? Dies lässt sich exemplarisch an der deutschen „Energiewende“ nachzeichnen. Zunächst entpuppen sich die momentan von der Green Growth-Gemeinde bestaunten Wertschöpfungsbeiträge der erneuerbaren Energien bei genauerer Betrachtung bestenfalls als Strohfeuereffekt. Nachdem der vorübergehende Aufbau additiver Kapazitäten abgeschlossen ist, reduziert sich der Wertschöpfungsbeitrag auf einen Energiefluss, der vergleichsweise wenig Aufwand an wertschöpfungsträchtigen Inputs verursacht und nicht beliebig gesteigert werden kann – es sei denn, die Produktion neuer Anlagen wird ohne Begrenzung fortgesetzt.
Aber dann drohen weitere Umweltschäden: Die schon jetzt unerträglichen Landschaftszerstörungen nähmen entsprechend zu, weil die materiellen Bestandsgrößen expandieren. Daran zeigt sich die Problematik materieller Verlagerungseffekte: „Grüne“ Technologien lösen zumeist ohnehin keine ökologischen Probleme, sondern transformieren diese nur in eine andere physische, räumliche, zeitliche oder systemische Dimension. Deshalb sind die Versuche, Entkopplungserfolge empirisch nachzuweisen, nur so brauchbar wie es gelingt, alle Verlagerungseffekte zu berücksichtigen. Aber wie sollen beispielsweise CO2-Einsparungen mit Landschaftszerstörungen saldiert werden?
Selbst wenn entmaterialisierte Produktionszuwächse je möglich wären, müssten die damit unvermeidlich korrespondierenden Einkommenszuwächse ebenfalls ökologisch neutralisiert werden. Aber es erweist sich als schlicht undenkbar, den Warenkorb jener Konsumenten, die das in den grünen Branchen zusätzlich erwirtschaftete Einkommen beziehen, von Gütern freizuhalten, in deren (globalisierte) Produktion fossile Energie und andere Rohstoffe einfließen. Würden diese Personen keine Eigenheime bauen, mit dem Flugzeug reisen, Auto fahren und übliche Konsumaktivitäten in Anspruch nehmen – und zwar mit steigender Tendenz, wenn das verfügbare Einkommen wächst?
Ein zweiter finanzieller Rebound-Effekte droht, wenn grüne Investitionen den Gesamtoutput erhöhen, weil nicht zeitgleich und im selben Umfang die alten Produktionskapazitäten zurückgebaut werden (die gesamte Wohnfläche nimmt durch Passivhäuser zu, die gesamte Strommenge steigt durch Photovoltaikanlagen), was tendenzielle Preissenkungen verursacht und folglich die Nachfrage erhöht. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass davon der fossile Sektor mitprofitiert.
Ein dritter finanzieller Rebound-Effekt tritt ein, wenn Effizienzerhöhungen die Betriebskosten bestimmter Objekte (Häuser, Autos, Beleuchtung etc.) reduzieren.
Theoretisch ließen sich diese Rebound-Effekte vermeiden, wenn sämtliche Einkommenszuwächse abgeschöpft würden – aber wozu dann überhaupt Wachstum? Was könnte absurder sein, als Wachstum zu erzeugen, um die damit intendierte Wirkung, nämlich Einkommenssteigerungen, im selben Moment zu neutralisieren?
Die Behauptung, durch Investitionen in grüne Technologien könne Wirtschaftswachstum mit einer absoluten Senkung von Umweltbelastungen einhergehen, ist also nicht nur falsch, sondern kehrt sich ins genaue Gegenteil um: Aus der Perspektive finanzieller Rebound-Effekte haben grüne Technologien allein unter der Voraussetzung eines nicht wachsenden BIPs überhaupt eine Chance, die Ökosphäre zu entlasten. Und dies ist nicht einmal eine hinreichende Bedingung, weil die materiellen Effekte – insbesondere die unzähligen Verlagerungsmöglichkeiten – auf der Entstehungsseite ebenfalls einzukalkulieren sind.
Obendrein beschwört die Entkopplungsstrategie ein moralisches Problem herauf: Das Schicksal der Menschheit würde auf Gedeih und Verderb von einem technischen Fortschritt abhängig, der noch nicht eingetreten ist und dessen zukünftiges Eintreten unbeweisbar ist – ganz zu schweigen davon, dass er womöglich mehr zusätzliche Probleme erzeugt, als er zu lösen imstande ist. Ist ein solches Roulette, das nicht aus Not, sondern allein um der Mehrung eines schon jetzt überbordenden Wohlstandes willen erfolgt, verantwortbar?
Grünes Wachstum, das darauf baut, moderne Konsum- und Mobilitätspraktiken von ökologischen Schäden zu entkoppeln, scheitert bereits an dem tief verwurzelten Irrglauben, dass einzelnen Objekten oder Handlungen per se Nachhaltigkeitsmerkmale zugeschrieben werden könnten. Warum soll beispielsweise ein Drei-Liter-Auto klimafreundlicher sein als ein 25 Liter schluckender Opel Admiral, wenn der Besitzer des ersteren pro Tag 200 Kilometer zum Arbeitsplatz fährt, während der Admiral-Besitzer sein Fahrzeug nur fünfmal pro Jahr nutzt, ansonsten aber mit dem Fahrrad fährt? Inwieweit trägt ein Passivhaus zur nachhaltigen Entwicklung bei, wenn deren Bewohner_innen über so viele Flachbildschirme, Computer, Kaffeemaschinen und Stereoanlagen wie Zimmer verfügen? Was bringt es, wenn jene, die im Gemeinschaftsgarten Möhren anbauen, den Urlaub in der Karibik verbringen oder zum nächsten Vernetzungstreffen nach Lateinamerika fliegen? Wie viele Menschenleben wären nötig, um durch konstanten Bionadekonsum, Mülltrennung und eine Car-Sharing-Mitgliedschaft die CO2-Emissionen eines einzigen Interkontinentalflugs zu kompensieren?
Allein individuelle CO2-Bilanzen sind eine verlässliche Zielgröße. Dabei lautet die zentrale Frage: Was darf sich ein einzelnes Individuum an materiellen Freiheiten insgesamt aneignen, ohne sozial oder ökologisch über seine Verhältnisse zu leben? Bezogen auf das Beispiel Klimaschutz würde dies bedeuten, dass jedem Individuum pro Jahr noch 2,7 Tonnen CO2 zustehen. Der aktuelle Durchschnittswert individuell verursachter Emissionen beläuft sich beispielsweise in Deutschland auf knapp elf Tonnen.
Einzelhandlungen und Produkte, die für nachhaltig befunden werden, entfalten zusehends (r)eine Symbolik, die das nicht-nachhaltige Andere, welches vom selben Individuum praktiziert wird, moralisch kompensieren kann: „Nachdem ich mir in letzter Zeit nur noch Öko-T-Shirts gekauft und an allen Klimaschutz-Treffen teilgenommen habe, werde ich ja wohl nicht auch noch auf den Indienurlaub verzichten müssen.“
Mit der Expansion „grüner“ Produkte sowie punktueller Nachhaltigkeitssimulationen, die sowieso nichts bewirken, weil sie zumeist additiv sind, steigt auch das Quantum unangetasteter Nachhaltigkeitsdefizite, die sich damit symbolisch kompensieren, also rechtfertigen lassen. Auch aus dieser Perspektive verbleibt als einziger Ausweg die Reduktion CO2-trächtiger Selbstverwirklichungsanspräche, also der Übergang zur Postwachstumsökonomie. Ein CO2-Budget von 2,7 Tonnen lässt keine großen Sprünge zu, sondern verweist darauf, dass Klimaschutz mindestens sesshafte Daseinsformen voraussetzt, also kerosinfreies Glück.
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