Logo degrowth

Blog

Lasst uns über Zeitwohlstand reden

14.04.2014

Von Felix Wittmann

Was heißt das: Zeitwohlstand? In unserem Buch zu diesem Thema haben wir den Begriff nicht eindeutig definiert. Nicht dass wir uns darüber keine Gedanken gemacht hätten. Wir glauben jedoch, dass Zeitwohlstand als Begriff eine Funktion erfüllen kann, für die eine strikte Definition nicht nötig ist und vielleicht sogar hinderlich wäre. Es reicht hier zunächst Zeitwohlstand als einen Zustand zu begreifen, in dem mehr Zeit verfügbar ist, als wir für die Erledigung unserer to-do-Listen brauchen (siehe dazu auch Hartmut Rosa). Für uns dient Zeitwohlstand als eine doppelte Überschrift. Eine Überschrift für die Kritik an einem rein materialistischen Verständnis von Wohlstand und an dem Wirtschaftssystem, welches damit verbunden ist. Und eine Überschrift für eine Vision von einem guten Leben. Nicht zuletzt ist der Begriff „Zeitwohlstand“ anstößig genug, um gelebten Alltag mit der Forderung nach politischen Reformen zu verknüpfen.

Zeitwohlstand als Kritik

„Zeit ist Geld.“ „Wohlstand muss man sich erarbeiten.“ Zeit lässt sich in Geld messen und Wohlstand hat mit ständiger Arbeit zu tun, so scheint es. Wenn wir von Arbeit reden, dann ist eigentlich immer Erwerbsarbeit gemeint – die in Geld messbar ist. Diese verbraucht jede Woche im Durchschnitt 41,9 Stunden unserer Lebenszeit (bei Vollzeitbeschäftigten, bei Teilzeitbeschäftigten sind es 18,2 h/Woche). Manchmal weniger, oft mehr. Wenn wir über Zeit-Wohlstand reden, dann müssen wir auch über Arbeit nachdenken. Doch da bekommen wir ein Problem: Was fällt unter Arbeit und was nicht? Wenn wir unsere to-do-Listen anschauen, dann stehen darauf weit mehr Dinge als die Erwerbsarbeit: „Wäsche aufhängen“, „Kochen mit Andi“,  „Bad putzen (!!!)“ – Reproduktionsarbeiten - die in unserer Gesellschaft noch immer vorwiegend von Frauen erledigt werden - zählen unbedingt dazu. Politische Arbeit – demokratische Beteiligung, Engagement in Vereinen, im Stadtteil... - das ist auch wichtige Arbeit. Unter der Überschrift „Zeitwohlstand“ haben wir also eine Kritik am eng gefassten Verständnis von Arbeit formuliert, die Frigga Haug in ihrem Beitrag zu unserem Buch auf den Punkt bringt.

„Wir haben keine Zeit für Erwerbsarbeit, wir haben so viel Anderes zu tun.“ (Adelheid Biesecker)

Gleichzeitig ist die Kombination von Zeit und Wohlstand natürlich auch eine Kritik am gängigen Wohlstandsverständnis. Und zwar eine, die sitzt. Und dabei möglicherweise nachdenklich an ihrem Tee nippt. Zeitwohlstand fragt: „Was verstehen wir heute eigentlich unter Wohlstand, wo wir über eine nie da gewesene Menge an Gütern verfügen, jedoch in Zeitarmut leben?“ Mit Hilfe des Begriffes lässt sich unserer Gesellschaft ein akuter Mangel diagnostizieren. Das ist ungewohnt und doch leuchtet es sofort ein: Zeit scheint wirklich zu wenig da zu sein. Nun kann diese Mangelerscheinung hinterfragt werden. Wie kommt es denn, dass meine to-do-Listen zu lang sind? Kann ich überhaupt über meine Zeit bestimmen, wenn ich vom Job zur KiTa rase und mir dabei den Kopf über das Abendessen zerbreche? Wenn nein, was bedeutet dann diese Freiheit, von der wir in unserer Gesellschaft so oft reden? Wir landen also bei grundsätzlichen Fragen.

Zeitwohlstand als Vision

Zeitwohlstand liefert eine Vision. Denn Zeitwohlstand beschreibt ja einen Zustand, in dem wir mehr Zeit haben, als wir für unsere notwendigen Erledigungen brauchen. In dem wir selbstbestimmt über unsere Zeit verfügen können. In Selbst Denken schreibt Harald Welzer, dass wir unsere Zukunft verloren zu haben scheinen. Was er damit meint: Wir arbeiten nicht mehr für ein Projekt in der Zukunft. Wir leben nicht mehr auf eine Verheißung hin, wie das noch in den 60er/70er Jahren war, als der technische Fortschritt Phantasien über eine rosige Zukunft beflügelte. Wir versuchen nur noch das Bisherige zu erhalten. Wir erwarten nicht, dass es uns einmal besser geht. Nein, wir hoffen nur, dass es uns in der Zukunft nicht schlechter gehen wird. Das Resultat ist verheerend. Warum? Weil unser gegenwärtiges Wirtschaften unseren Planeten zerstört, viele Menschen in die Armut zwingt und uns obendrein nicht glücklich macht. Zeitwohlstand hat dem etwas entgegen zu setzen: Eine Idee eines Lebens mit genügend Zeit. Zeit für die Dinge, die uns etwas bedeuten. Zeit, um Dinge gemeinsam zu gestalten, wie zum Beispiel eine Selbsthilfewerkstatt oder einen Gemeinschaftsgarten.

Anstöße

Für ein gutes Leben sollte die Zeitperspektive also mitgedacht werden, denn ein ökologisch nachhaltiges und sozial aktives Leben braucht mehr Zeit: Zeit zum Fahrrad Reparieren, zum Äpfel Einkochen, zum Organisieren des Stadtteilladens – Resonanz erfahren ist mit Zeitaufwand verbunden. Zeitwohlstand schafft es, die Perspektive Zeit in den Diskurs einzubringen und mit ihr die oben formulierte Kritik plus Vision. Der Begriff schafft somit vor allem eines: Anstöße. Er knüpft am für alle erlebbaren und oft als natürlich empfundenen Phänomen der Zeitarmut (Stress, Burnout, Beschleunigung) an und behauptet: das muss nicht so sein! So stößt er zum kritischen Nachdenken an. Dabei geht es nicht nur darum, die eigene Zeitorganisation oder bedenkliche Konsummuster kritisch zu hinterfragen, sondern vielmehr um die gesellschaftliche Dimension. Macht die gegenwärtige Zeiteinteilung Sinn – vor allem im Hinblick auf gesellschaftliche Ziele, wie z.B. soziale Gerechtigkeit oder ökologische Nachhaltigkeit? Nein. Also lasst uns über Zeitwohlstand reden.

> Kommentieren Sie diesen Artikel auf dem Blog "Postwachstum"

Share on the corporate technosphere


Our republication policy

Support us

Blog

Book review: ‘Degrowth/Postwachstum’. A German introduction to Degrowth

Capture d e%cc%81cran 2020 01 23 a%cc%80 14.46.26

By: Gerrit Stegehuis

Last summer, Matthias Schmelzer and Andrea Vetter, both from the Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig, published the book ‘Degrowth/Postwachstum’. With this book, they provide the first introduction to degrowth in German. For lack of a good German translation of ‘degrowth’ they use ‘Postwachstum’ more or less as a synonym. First they describe how our societies came to depend on growth, and they...

Blog

Decolonisation and Degrowth

By: Claire Deschner, Elliot Hurst

Why do degrowth scholars use the word "decolonise" to discuss the process of changing the growth imaginary? Isn’t decolonisation about undoing the historical colonisation of land, languages and minds? How do these two uses of the word relate? This blog post is the result from a discussion held between some participants at a Degrowth Summer School in August 2017. While some parts of this blog...

Blog

Revolution predigen und Karottensaft trinken? - Ansprüche und Praxis der Degrowth-Bewegung 

Karottensaft

von Jana Holz und Miriam Fahimi Während sich andere Workshops der Sommerschule zu Degrowth und Klimagerechtigkeit zum Beispiel mit dem Emissionshandel, den sozialen Konditionen des Klimawandels, makroökonomischen Bedingungen von Postwachstumsgesellschaften beschäftigten, haben wir uns vor allem mit uns selbst auseinander gesetzt. Dieses mit-sich-selbst-auseinander-setzen, das wurde jedoch schn...