In diesem Jahr gibt einen Tag mehr als sonst. Da die Erde sich nicht exakt in 365 mal 24 Stunden um ihre eigene Achse dreht, sondern etwas länger braucht, geben wir ihr alle vier Jahre einen Extra-Tag, um die verbummelte Zeit aufzuholen - damit der menschengemachte Kalender wieder mit den physikalischem Abläufen zusammenpasst. Das Schaltjahr (engl: „leap year“) erinnert also daran, dass unsere kulturellen Vereinbarungen gar nicht so fix sind, wie sie manchmal scheinen - wir können sie ändern oder anpassen, wenn es erforderlich ist, den menschlichen und natürlichen Rhythmus miteinander in Harmonie zu bringen.
Eine Gruppe von kanadischen Aktivist*innen und Intellektuellen, darunter Naomi Klein, hat dieses Bild als Aufhänger genommen, die Skizze einer neuen Gesellschaft zu entwerfen, die in der Lage ist, Klimawandel aufzuhalten und soziale Spaltungen zu verringern: das „Leap Manifesto“. Um diese Gesellschaft umzusetzen, brauche es rasche und tiefgreifende Veränderungen. Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei, heißt es in dem Manifest, „wir müssen springen“ (engl.: „to leap“), und zwar am besten jetzt, oder zumindest morgen - so dass das neue Jahr im doppelten Sinne ein Schaltjahr (engl.: „leap year“) wird. Das Manifest ist in Kanada auf große Resonanz gestoßen, und zwar nicht nur bei den üblichen Verdächtigen aus der politischen Linken, sondern z.B. auch bei zahlreichen Kunst- und Kulturschaffenden des öffentlichen Lebens.
Der Text beschreibt in schlichter, verständlicher Sprache eine sozial-ökologische Transformation, die starke soziale Sicherungssysteme schafft; er spricht davon, den Ausbau der erneuerbaren Energien und der öffentlichen Transportmittel, die Stärkung der ökologischen Landwirtschaft und des Pflege – und Bildungsbereiches als Chance zu begreifen, sinnvolle und besser bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, durch die Armut und Ausgrenzung minimiert werden. Das Geld für einen solchen Umbau sei vorhanden, heißt es im Leap Manifesto, dafür müssten Subventionen für die fossilen Industrien abgezogen, Finanztransaktionssteuern eingeführt, Einkommenssteuern für Vermögende erhöht und die Ausgaben für den Militärhaushalt gestrichen werden. Die Politik, die wir für diesen sozial-ökologischen Umbau brauchen, ist genau das Gegenteil von einem Austeritätskurs, der öffentliche Investitionen herunterfährt und kohlenstoffarme Wirtschaftssektoren wie Bildung und Pflege aushungern lässt. Die vorgeschlagenen Maßnahmen für den Umbau laufen auch einer Freihandelspolitik zuwider, die eine Gesetzgebung zur Stärkung von regionalen Wirtschaftsbereichen oder zur Regulierung von extraktivistischen Konzernen unmöglich machen kann.
Was bringt so ein Text, der in einem Rundumschlag alle zu bearbeitenden Baustellen auflistet? Schön, dass es mal ein Komplettpaket mit den bekannten sozialen und ökologischen Visionen gibt, und das nur auf zweieinhalb Seiten - aber kann das eine politische Wirkung haben? Und Utopien sind doch eigentlich out...
Der Charme des „Leap Manifesto“ liegt darin, dass es nicht das Schlaraffenland auf Erden verspricht, sondern plausible, machbare Änderungen vorschlägt. Das Manifest ist keine Utopie, sondern ein Arbeitspapier, das sozialen Bewegungen für die nächsten fünf Jahre eine Orientierung geben kann. Es redet nicht vom Weltfrieden, sondern fordert eine Reduzierung der Militärausgaben. Es verlangt nicht die Abschaffung aller Grenzen, sondern spricht davon, dass Kanada, in Anerkennung seines Beitrags zu Klimawandel und militärischen Konflikten, Flüchtlinge „willkommen heißen“ muss. Auch wenn die Ziele des Textes nicht unbedingt revolutionär sind, so sind sie doch nicht zahnlos – wie die panische Reaktion der konservativen kanadischen Öffentlichkeit zeigt.
Ein weiterer Reiz des Manifests ist, dass sich so viele darin wiederfinden können: indigene Gemeinschaften ebenso wie die Anti-TTIP-Kampagnen; Menschen, die für eine alternative Landwirtschaft streiten ebenso wie Refugee-Welcome-Gruppen, Kritiker*innen der Austeritätspolitik oder die Klimabewegung. Darum kann dieser Text dazu beitragen, politische Gruppen zu verknüpfen und zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Das ist dringend nötig: wir dürfen keine Fachidioten für unser Spezialthema sein, sondern brauchen einen großen, ganzheitlichen Ansatz für soziale Veränderung.
Das Manifest ist keine intellektuell überfrachtete Abhandlung. Es ist die Geschichte einer nahen Zukunft, die begeistern kann. Es ist eine Geschichte, die wir erzählen können, wenn wir im Mai wieder die Braunkohlebagger blockieren und die Leute fragen: „Ja, was wollt ihr denn?“
Das Leap Manifesto bezieht sich stark auf die kanadische Gesellschaft. Wenn wir in Europa mit einem solchen Leitbild arbeiten wollten, dann müssten wir den Text nicht nur übersetzen sondern auch auf die hiesige Situation anpassen.
Ein europäisches Leap Manifesto wäre Wasser auf die Mühlen einer wachstumskritischen Klimagerechtigkeitsbewegung. Es könnte unsere Argumentation unterstützen, dass es bei einer Energiewende um mehr geht, als um die bloße Reduktion von CO2-Emissionen oder den Ausbau Erneuerbarer Energien, sondern um Ursachenbekämpfung: also um „System Change“. Ein solches Leitbild könnte uns helfen, genauer zu definieren, wo eine linke Klimabewegung hin will.
Spätestestens seit dem UN-Gipfel in Paris sind wir von Klimaschützern umzingelt. Autokonzerne und Flugzeugbauer sponsern ihre Version von Energiewende, Francois Holland spricht von „Revolution“, Konzernchefs nennen sich „Aktivisten“, Merkel will die „Transformation“. Und die Kampagnenorganisation Avaaz schreibt jubelbesoffene Danke-Mailings an ihre Mitglieder, denn deren Unterschriften hätten die Politiker*innen bekehrt und die Welt gerettet. Doch „Klimaschutz“ á la Paris, das bedeutet, u.a. Waldschutzmaßnahmen, die die Natur in die Logik eines globalen Kohlenstoffmarktes zwingen und häufig die Landrechte indigener Gemeinschaften verletzen; vermeintlich grüne Megaprojekte, die ohne Absprache und oft mit verheerenden Konsequenzen für die lokale Bevölkerung durchgeführt werden; Kompensationsmechanismen, die es schmutzigen Konzernen erlaubt, weiterhin Treibhausgase zu emittieren; kostspielige Risikotechnologien, die „negative Emissionen“ zaubern sollen. Und nichts davon ändert die Ursachen für unseren exzessiven Ressourcenverbrauch, nichts davon rüttelt an den Machtverhältnissen, die Ausbeutung und Unterdrückung hervorgebracht haben.
Mehr denn je müssen wir prüfen, was in den Packungen drin ist, bei denen „Klimaschutz“ oder „Transformation“ außen drauf steht. Auch der Begriff „Klimagerechtigkeit“ ist keine geschützte Marke. Bevor er uns weggenommen wird, sollten wir ihn offensiv mit unseren Werten füllen – möglicherweise gestützt auf ein kompaktes aber ganzheitliches Manifest, das einerseits Eckpunkte für neue soziale Bündnisse abgesteckt und anderseits eine Geschichte mit ästhetischer Wirkung erzählt.
Dabei wird klar: für Klimagerechtigkeit zu sein, heißt, gegen TTIP und Austeritätspolitik zu sein. Es ist Aufgabe der Klimagerechtigkeitsbewegung, rassistischen Strömungen in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken und Fluchtursachen zu bekämpfen; auch die Forderung nach einer Umverteilung von Arbeit und Einkommen gehören dazu. Und: wenn du Bombeneinsätze unterstützt, ist deine Transformation nicht meine.
Erinnern wir uns: die Ursachen für die Ausbeutung von Mensch und Natur sind keine physikalischen Gesetze. Es sind menschengemachte Verhältnisse, die von Menschen geändert werden können. Oder, um im Bild zu bleiben: wir sitzen am Schalthebel für den Gang der Geschichte.
Ich wünsche euch allen ein widerständiges 2016 und einen guten Sprung in die neue Gesellschaft!
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