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Europas Schande: Der EU-Türkei-Pakt und die Abschottung Europas

By: Fabian Scheidler

16.06.2016

Refugee camp 1

Endlich habe die EU wieder Stärke und Einigkeit gezeigt, endlich sei sie wieder in der Lage, ihre Außengrenzen zu sichern, so die offiziellen Verlautbarungen nach dem Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdogan im März. Doch die „Schließung der Balkanroute“ und der Pakt mit der Türkei sind tatsächlich eine Schande für Europa. Es ist ein Triumph der Zyniker, ein Kniefall vor den Rassisten in der EU, eine vollständige Preisgabe der angeblich europäischen Werte.

Für die vielen Menschen, die weiterhin fliehen, um ihr Leben zu retten oder Unterdrückung und Elend zu entkommen, endet die Reise nun schon in der Türkei. Drei Milliarden Euro wird der türkische Präsident Erdogan für die Flüchtlingsabwehr erhalten, und noch einmal so viel in zwei Jahren, während er sein Land zunehmend unter Kontrolle eines autoritären Regimes stellt, die Pressefreiheit massiv bekämpft, einen Großteil der parlamentarischen Opposition ins Gefängnis zu werfen droht, Krieg gegen den kurdischen Teil der eigenen Bevölkerung führt und weiterhin die Terrororganisation Al-Nusra-Front (alias Al Qaida in Syrien), wahrscheinlich auch den syrischen IS unterstützt. Als Gegenleistung für das Wegschauen der EU soll die Türkei die Geflüchteten festhalten und die aus Griechenland Abgeschobenen aufnehmen. Für jeden Syrer, der es bis nach Griechenland schafft und von dort zurück in die Türkei deportiert wird, soll wiederum ein Syrer legal in die EU kommen. Die absurde Logik dabei: Nur wenn Menschen ihr Leben in der Ägäis riskieren, entstehen legale Einreiseplätze. Und das auch nur für Syrer, nicht für Afghanen, Iraker, Eitreer und andere Menschen, die vor Krieg, Elend und Verfolgung fliehen. Maximal 72.000 Plätze werden dafür zur Verfügung stehen – nicht pro Jahr sondern insgesamt. Das sind 0,000144 Prozent der EU-Bevölkerung. Die EU, eine der reichsten Regionen der Welt, ist damit endgültig zur Festung geworden. Die Quoten erinnern an die dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts, als die USA, Großbritannien und viele andere Staaten ähnlich niedrige Quoten für jüdische Flüchtlinge einführten. In die USA etwa durften, als der Holocaust sich anbahnte, nur noch 27.000 Juden pro Jahr einreisen. Hunderttausende hätten gerettet werden können.

Die Türkei als "Freiluftgefängnis für verzweifelte Flüchtlinge"

Die türkische Regierung hat angekündigt, das EU-Geld unter anderem für den Aufbau von Schulen und Krankenhäuser zu benutzen. Ob das geschieht und das Geld bei den bedürftigen Flüchtlingen ankommt ist sehr fraglich. Selbst wenn: Drei Milliarden Euro für fast drei Millionen Geflüchtete sind vollkommen unzureichend. Allein 400.000 syrische Kinder leben schon jetzt ohne Schulerziehung in der Türkei. Viele von ihnen müssen täglich arbeiten, um Geld zum Überleben zu verdienen. Zehntausende von Geflüchteten brauchen dringend medizinische Hilfe. Türkische Hilfsorganisationen befürchten, dass die Türkei zu einem „Freiluftgefängnis für verzweifelte Flüchtlinge“ wird. Die EU ist dabei, ein Archipel von Lagern an seiner Außengrenze aufzubauen, die – so die unausgesprochene Logik dabei – so unmenschlich sein werden, dass die Flüchtenden lieber zwischen den Fronten von Assad und IS oder in den zahlreichen Konflikt- und Elendsgebieten bleiben.

Und die Bundesregierung? Angela Merkel hat bei aller Wir-schaffen-das-Rhetorik bereits seit langer Zeit daran gearbeitet, die Grenzen der Festung Europa in die Türkei und nach Nordafrika zu verschieben. Die bisherige Grenzschutzagentur Frontex soll verstärkt und zu einer neuen Europäischen Grenz- und Küstenwache umgebaut werden. Bereits jetzt agiert die NATO mit Kriegsschiffen in der Ägäis zur Abwehr von Geflüchteten. Angesichts des Aufstiegs der AfD hat die Kanzlerin schließlich die Reste humaner Politik dem parteipolitischen Machterhalt geopfert. Nach dem Deal mit Erdogan hat sie angekündigt, dass nun auch die Libyen-Italien-Route mit ähnlichen Mitteln blockiert werden soll. Einen entsprechen Plan legte kurze Zeit später die EU-Kommission vor: Sogenannte „Migrationspartnerschaften“ nach dem Vorbild des Türkei-Pakts sollen künftig dazu dienen, Flüchtende in den nordafrikanischen Ländern festzusetzen. Dabei schreckt die Kommission nicht davor zurück, mit Kriegsverbrechern und Diktatoren wie im Sudan oder in Eritrea zusammenzuarbeiten. Währenddessen erklärt die Bundesregierung Schritt für Schritt Staaten wie Marokko oder Algerien, die für massive Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, zu „sicheren Herkunftsländern“.

Die neurechten Kräfte haben damit, noch bevor sie in den Bundestag einziehen könnten, politisch bereits gewonnen. Sie treiben Union und SPD und sogar Teile der Grünen und Linken vor sich her. Und einige Journalisten in diesem Land haben dabei erhebliche Schützenhilfe geleistet, vor allem in der Zeit nach dem Kölner Sylvester. Bemerkenswert ist vor allem, worüber kaum noch gesprochen wird – etwa über die fatale Rolle unserer „Partner“ Türkei und Saudi-Arabien im Nahen Osten. Zwar führt die Kanzlerin das Wort „Fluchtursachen“ ständig im Mund, aber nach deutschen Waffenlieferungen oder den Auswirkungen deutscher Exportsubventionen wird nicht gefragt. Immerhin ist Deutschland inzwischen zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt aufgestiegen, mit einem Volumen von mehr als fünf Milliarden Euro – und ein erheblicher Teil davon geht nach Saudi-Arabien und in die Türkei. Statt solche Praktiken ins Zentrum der Debatte zu stellen, war spätestens seit Köln der treibende Tenor der Fragen: Wann werden Sie endlich die Grenzen dicht machen? Medien können aus den Stimmen von radikalen Minderheiten wie Pegida und AfD Herdenbewegungen machen, indem sie ihnen ein Megaphon verschaffen. Hätte man den Millionen von Helfenden in Deutschland, die mit aller Kraft daran arbeiten, den Ankommenden ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, in den letzten zwei Monaten ebenso viel Sendezeit eingeräumt wie Pegida und AfD, dann hätten wir eine andere öffentliche Debatte – und möglicher Weise auch noch eine Chance auf eine andere Politik.

Rassismus verkauft sich - auf wenn man sich darüber empört

Aber Rassimus verkauft sich, auch wenn man sich darüber empört. Nicht nur in Europa. Der Chef des US-Privatsenders CBS hat es in Bezug auf den Rassisten Donald Trump, der eine Mauer an der mexikanischen Grenze bauen will, so formuliert: „Wer hätte diese Welle erwartet, auf der wir jetzt alle reiten? Für Amerika mag das nicht gut sein, aber es ist verdammt gut für CBS. Es wird ein sehr gutes Jahr für uns werden. Es tut mir leid, es ist schrecklich, das zu sagen, aber: Mach weiter, Donald!

Den Preis für den gesammelten Zynismus zahlen die Menschen in Griechenland, das zu einem gescheiterten Staat zu werden droht, in der Türkei, wo die Reste von Demokratie straflos zerstört werden, und vor allem die Kurden, Syrer, Iraker, Afghanen, Roma und Eritreer, die Gefangene von Krieg und Chaos bleiben werden.

Dabei wären die wohlhabenden EU-Länder durchaus in der Lage, noch viele Millionen Geflüchtete aufzunehmen, ohne selbst im Chaos zu versinken – oder auch nur Wohlstandseinbußen hinnehmen zu müssen. Denn Geld ist genug da, man muss es nur bei den Richtigen holen. Zum Beispiel bei der wachsenden Zahl von Mulitmillionären und Milliardären. Mit einer Vermögensabgabe etwa ließen sich große öffentliche Wohnungsbauprogramme auflegen, die wir sowohl für Geflüchtete als auch für Hunderttausende von deutschen Staatsbürgern brauchen, die derzeit vergeblich versuchen, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Solche Programme werden von der Bevölkerung willkommen geheißen, sobald sie allen zugute kommen und keine neuen Schranken zwischen Menschen verschiedener Herkunft errichten. In Kommunen könnten Tausende von sinnvollen neuen Jobs geschaffen werden, etwa in Schulen, Kitas oder Gesundheitseinrichtungen. Statt Waffen für die Türkei und Saudi-Arabien zu produzieren, können wir genausogut menschenwürdige Lebensverhältnisse bei uns schaffen.

Angesichts sich verschärfender globaler Krisen – des Klimawandels, einer maroden Weltwirtschaft und zunehmenden Kriegen – werden in Zukunft nicht weniger sondern mehr Menschen nach Europa wollen. Wir müssen endlich begreifen, dass Europa ein Einwanderungskontinent ist. Das zu organisieren, bedeutet einen gewissen Aufwand, aber es ist kein Hexenwerk. Während die EU Raumfahrtmissionen für den Mars vorbereitet, sollte sie doch in der Lage sein, eine Zuwanderung von etwa 0,3 Prozent ihrer Bevölkerung pro Jahr zu managen – denn mehr war es auch im Jahr 2015 nicht. Wenn das gelingt, brauchen wir auch keine Lager an den Außengrenzen und keinen schmutzigen Pakt der Türkei. Statt sich von Erdogan erpressen zu lassen, könnte die EU Bedingungen an die bereits seit Jahren fließenden EU-Hilfsgelder knüpfen und die Waffenlieferungen stoppen. Druckmittel gäbe es genug, um die Wiederherstellung der Pressefreiheit und ein Ende des Kriegs gegen die Kurden einzufordern. Die EU-Regierungen haben einen anderen Weg gewählt – zu unserer aller Schande.

Dieser Beitrag erschien in der ursprünglichen Fassung auf www.kontext-tv.de.

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