Der folgende Artikel wird in erweiterter Form im “Atlas der Globalisierung” erscheinen. Der neue Atlas, herausgegeben von Le Monde diplomatique und dem Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Universität Jena) wird unter dem Motto “Weniger wird mehr. Der Postwachstums-Atlas” auf verschiedene Aspekte von Wachstum und Postwachstum konzentrieren. Er erscheint in einer kostenfreien Vorabversion zur Degrowth-Konferenz 2014 und als Vollversion im Frühsommer 2015.
Postwachstum. Degrowth. Décroissance. Das sind die Schlagworte einer wachsenden europäischen Bewegung von Aktivisten und Wissenschaftlerinnen, die das vorherrschende Entwicklungsmodell des kontinuierlichen kapitalistischen Wachstums kritisiert. Gesucht werden Alternativen – welche unterschiedlichen Ansätze werden diskutiert.
Die Kritik am Wirtschaftswachstum ist fast so alt wie das Phänomen selbst. Eine neue Dimension bekam sie durch die Wahrnehmung der Endlichkeit der Ressourcen auf diesem Planeten. Der erste Bericht an den Club of Rome von 1972 führte zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über “Die Grenzen des Wachstums”, die bis heute nicht abgerissen ist. Der wichtigste neue Impuls im 21. Jahrhundert kam von der Décroissance- oder Degrowth-Bewegung, die sich in den vergangenen zehn Jahren von Frankreich über Spanien und Italien in den angelsächsischen Raum ausgebreitet hat. Auch in Deutschland wurde sie aufgegriffen. Die Forderung nach “Décroissance”, was so viel heißt wie Ent-Wachstum oder Wachstumsrücknahme, richtet sich nicht nur gegen die Unendlichkeitsvorstellungen der neoklassischen Wachstumsökonomie. Sie kritisiert auch öko-keynesianische Bestrebungen, die krisengeschüttelten Ökonomien durch einen Green New Deal wieder auf Wachstumskurs zu bringen.
Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich unter dem Stichwort „Postwachstum” ein vielgestaltiges Feld von Positionen zur sozial-ökologischen Transformation. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle den Technikoptimismus der 1990er Jahre kritisieren – die Vorstellung, dass durch Öko-Technologien „grüne” Produktion und „grüner” Konsum vom Umweltverbrauch entkoppelt und begrenzt werden könnte. Ökologische Gerechtigkeit, so der Schluss, müsse daher ein Ende des Wachstums im globalen Norden bedeuten.
Die zweite wesentliche Gemeinsamkeit liegt in dem Versuch, konkrete Utopien als Alternativen zum Wachstumsdiktat zu entwerfen und diese mit widerständigen Praktiken zu verbinden. Inspiriert durch so unterschiedliche Quellen wie ökologische Ökonomie, Kritik an Entwicklungspolitik und Diskussionen zum „Guten Leben” beschäftigen sich die unterschiedlichen Ansätze mit der Frage, wie die sozial-ökologische Transformation in den hochindustrialisierten Ländern aussehen könnte.
Dabei geht es ausdrücklich um die hoch industrialisierten Länder des globalen Nordens, auch wenn soziale Bewegungen aus dem Süden wichtige Bündnispartner sind (Diskussionen zu Buen Vivir und Graswurzel-Umweltbewegung der Armen). Rohstoff-, Ressourcen- und Landschaftsverbrauch sowie Abfallaufkommen und Emissionen der reichen Länder sollen auf ein Niveau gesenkt werden, das langfristig nachhaltig ist und den Ländern des Südens gleichberechtigte Entwicklungsmöglichkeiten lässt.
Im deutschsprachigen Raum wurde Wachstumskritik besonders im Kontext der Weltwirtschaftskrise ab 2007 laut. Neben einem zunehmenden Forschungsinteresse an Universitäten lassen sich dabei fünf Ansätze mit unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Stoßrichtung unterscheiden: 1. konservative, 2. sozialreformerische, 3. suffizienzorientierte, 4. kapitalismuskritische und 5. feministische Ansätze. Auch wenn sie nur teilweise Verbindungen zur Décroissance haben, werden sie hier kurz dargestellt, da sie die aktuellen wachstumskritischen Diskussionen prägen. Diese grobe Skizze kann natürlich nur einen oberflächlichen, etwas verkürzenden aber trotzdem notwendigen Überblick über eine ausgesprochen komplizierte Diskussionslandschaft bieten.
Charakteristisch für die Diskussion in Deutschland ist erstens der starke Einfluss einer neoliberalen und konservativen Richtung der Wachstumskritik, die vor allem von dem CDU-Berater und Vordenker der neoliberalen Rentenreform, Meinhard Miegel, propagiert wird. In Büchern, Artikeln, Interviews und im Rahmen des von ihm gegründeten Think Tank „Denkwerk Zukunft“ argumentiert er, “wir alle” hätten über unsere Verhältnisse gelebt und müssten daher den Gürtel enger schnallen. Die Schrumpfung der Wirtschaft wird als unvermeidliches Schicksal moderner Industriegesellschaften gesehen, was Miegel zum einen ökologisch, zum anderen auch mit Wachstumsgrenzen begründet, die durch den demographischen Wandel, übersättigte Märkte und einen überbordenden Sozialstaat entstanden sind. Konservative Wachstumskritik plädiert dafür, den Sozialstaat durch freiwilliges Engagement, eine Kultur der Almosen und vornehmlich weibliche Familienarbeit zu ersetzen. Wachstumskritik wird auf diesem Wege zum Rechtfertigungsinstrument und Hebel von Sozialabbau, Privatisierung, einem Roll-Back der Geschlechterverhältnisse und Sparzwang.
Ein zweiter Ansatz ist die ökologisch ausgerichtete, sozialreformerische, liberale und den Umweltverbänden nahestehende Wachstumskritik, die vor allem die Ökonominnen Angelika Zahrnt und Irmi Seidl stark gemacht haben. Er geht davon aus, dass die politische Fixierung auf das Wirtschaftswachstum ökologisch und moralisch falsch sei. Als wesentliche Triebkräfte für Wirtschaftswachstum werden wachstumsabhängige gesellschaftliche und ökonomische Institutionen sowie politische Parteien ausgemacht. Die Ökonominnen fordern ein Ende dieser Wachstumspolitik, eine Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs entsprechend den Nachhaltigkeitszielen, und – das macht den Kern ihres Ansatzes aus – den Umbau bislang noch wachstumsabhängiger und -treibender Bereiche, Institutionen und Strukturen. Ob das Ergebnis weiteres Wirtschaftswachstum oder eine Abnahme von Produktion und Konsum ist, bleibt offen. Wachstumskritik ist hier strukturkonservativ gedacht: Es geht nicht um eine grundlegende Transformation, die umfassend gesellschaftliche Probleme in den Blick nimmt, sondern darum, Institutionen wie Alterssicherungssysteme, Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit, Steuern, Finanzmärkte, und Staatsfinanzen umzubauen – sofern sie vom Wachstum abhängig sind.
Da Wachstumskritik hier als nachhaltiger Liberalismus gedacht wird, sind ökologische Steuern (z.B. auf den umweltschädlichen Ressourcenverbrauch) ein wichtiges Veränderungsinstrument. Aufbauend auf diesem Ansatz haben Angelika Zahrnt und der Präsident des „Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie”, Uwe Schneidewind, Vorschläge für eine solche “Suffizienzpolitik” gemacht, die weniger verbrauchende Lebensstile erleichtern soll.
Sowohl die konservative Wachstumskritik à la Miegel als auch die sozialreformerischen Ansätze von Seidl/Zahrnt zielen nicht auf einen bewusst herbeigeführten Rückgang der Wirtschaftsaktivität mit dem Ziel des Guten Lebens ab. Während die erste Position Schrumpfung als unvermeidliches Schicksal sieht, weicht die zweite der Frage aus, ob eine Entkopplung möglich ist.
Zwei weitere Strömungen sehen dies anders: Sie halten eine grundlegende Abkehr vom Wachstum für unumgänglich und erstrebenswert, wenn ökologische Ziele ernst genommen werden und globale Klimagerechtigkeit kein Luftschloss bleiben soll. Der Oldenburger Ökonom Niko Paech hat ein konkretes Modell einer Postwachstumsökonomie vorgelegt: Ausgehend von dem Postulat, alle sieben Milliarden Menschen der Erde hätten das gleiche Anrecht auf Umweltraum (d.h. beispielsweise 2,7 Tonnen CO2-Ausstoß pro Person und Jahr), macht Paech zwei Wachstumstreiber aus: auf der individuellen Ebene Konsumentinnen, die überproportional viel Umweltraum in Anspruch nehmen (für Wohnen, Essen, Autofahren, technische Geräte etc.), auf der ökonomischen Ebene die Fremdversorgung und Arbeitsteilung in globalisierten Märkten, die über lange Wertschöpfungsketten Wachstum erzwingen, oft noch verstärkt durch Zinsen. Darauf aufbauend stützt sich Paechs Postwachstumsökonomie auf zwei Grundpfeiler: einer individuellen Strategie der Suffizienz kombiniert mit einem radikalen Rückgang der Fremdversorgung zugunsten regionaler und lokaler Ökonomien, Selbstversorgung und Eigenproduktion. Die wichtigsten Akteure des Wandels sind dabei „Prosumentinnen”, also Personen, die nicht nur weniger konsumieren, sondern auch gemeinsam zum Beispiel in Reparaturwerkstätten die Lebensdauer vorhandener Produkte verlängern, Formen von Eigenproduktion entwickeln (urban gardening) und so Lokalisierung und Entkommerzialisierung praktisch vorantreiben.
Ein vierter Ansatz betont die umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen, die eine sozial-ökologische Transformation beinhaltet. Als Ursachen der multiplen Wachstumskrisen werden kapitalgetriebene Akkumulation und das kontinuierliche Zur-Ware-Machen zunehmender Lebensbereiche durch Privatisierungen und die Ausdehnung von Märkten analysiert. Daher streben sie ein Zurückdrängen von Marktmechanismen, die Vergesellschaftung zentraler Wirtschaftsbereiche und den Abbau von Machtverhältnissen an. Betont wird in Abgrenzung zu den vorher genannten Positionen, dass die soziale und die ökologische Frage nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Wichtige Bausteine einer solidarischen Postwachstumsökonomie sind Gemeingüter und Commoning, die Stärkung von Projekten der solidarischen Ökonomie, eine radikale Arbeitszeitverkürzung sowie Grund- und Maximaleinkommen. Zentrale Akteure sind soziale Bewegungen und Menschen, die sich in Alternativprojekten engagieren. Mit etwas anderer Stoßrichtung setzen Diskussionen um Ökosozialismus auf die Überwindung von Kapitalismus und Industriegesellschaft durch planwirtschaftliche Schrumpfung und die Verstaatlichung der Produktionsmittel.
Der fünfte Ansatz ist die feministische Ökonomie, insbesondere die Subsistenzperspektive. Sie wurde zwar nicht explizit als Beitrag zur Postwachstumsdiskussion konzipiert, ist aber eine wichtige Inspirationsquelle. Die sozialen und ökologischen Krisen erklären ihre Vertreter aus der patriarchalen, kapitalistischen Ausbeutung von (weiblicher) Reproduktionsarbeit, der Natur und den (postkolonialen) Ökonomien des globalen Südens. Vor allem die lange Tradition der Kritik am BIP hat deutlich gemacht, wie umfassend das Wachstumsparadigma nichtmarktförmige Arbeit (zum Beispiel Kindererziehung, Pflege) entwertet. Im Gegensatz dazu zielen feministische Perspektiven darauf ab, diese Tätigkeiten, die zugleich die Basis für die Gesellschaft und das Leben überhaupt darstellen, in den Mittelpunkt zu rücken. Zentrale Prinzipien sind dabei Vorsorge, Kooperation und Orientierung am für das Gute Leben Notwendigen.
International wurde die Postwachstumsbewegung stark durch die drei großen Degrowth-Konferenzen 2008 in Paris, 2010 in Barcelona, und 2012 in Venedig vorangebracht, auf denen Aktivistinnen und Wissenschaftler an der Entwicklung gemeinsamer Positionen gearbeitet haben. Dass dieser kontinuierliche Arbeitsprozess mit der „Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit” im September 2014 nach Leipzig kommt, veranschaulicht, dass die Postwachstumsdebatte auch im deutschsprachigen Raum angekommen ist. Wachstumskritik ist zwar ein umkämpftes Terrain mit sich teils stark widersprechenden Visionen. Und auch wenn wachstumskritische Perspektiven von vielen Gruppierungen der deutschen Umweltbewegung aufgegriffen wurden, ist kaum zu erkennen, welche gesellschaftlichen Akteure eine so grundsätzliche Veränderung herbeiführen können. Dennoch bilden die dabei entstehenden Praktiken, zusammen mit bereits etablierten Bewegungen und Gruppen wie den Transition-Towns, Projekten der solidarischen Ökonomie, sowie Klimaaktivist_innen eine wichtige Grundlage für die Entstehung einer Postwachstumsbewegung. Es bleibt zu hoffen, dass die Postwachstumsperspektiven stärker als bisher an aktuellen Konflikten wie den Flüchtlingskämpfen, Energiekämpfen, Protesten gegen Freihandels- und Investitionsabkommen (TTIP), Kämpfen um das Recht auf Stadt, oder den Widerstand gegen die autoritäre Transformation der Europäischen Union (Blockupy) anknüpfen.
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