Von den TeilnehmerInnenn der Theoriewerkstatt zu Wachstumszwängen
Wir wollen im ersten Teil dieses Artikels beleuchten, warum die klassischen Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftswachstum für notwendig halten, um die Konsumwünsche einer Bevölkerung zu befriedigen, sowie die Fragwürdigkeit dieser Annahme offen legen. Um es nicht bei der Kritik zu belassen, stellen wir im zweiten Teil mögliche Alternativen zu den derzeitig vorherrschenden Konsumgewohnheiten dar, die auch ohne Wirtschaftswachstum Konsumbedürfnisse befriedigen.
Einer der großen Einwände gegen die Idee einer Wirtschaft ohne Wachstum ist, dass dadurch die Lebensqualität der Bevölkerung vermindert werden würde. Dieser Annahme liegt die Vorstellung zu Grunde, dass das BIP einen geeigneten Maßstab zur Messung des materiellen Lebensstandards und damit auch der Lebensqualität darstelle. Die Frage danach, ob eben dies tatsächlich zutrifft, wird gegenwärtig wieder gestellt, nachdem diese Annahme über viele Jahrzehnte meist selbstverständlich vorausgesetzt wurde.
Gestützt auf eine solche Annahme wird ein Wirtschaftssystem gefördert, welches durch maschinelle industrielle Produktion unter der Bedingung hoher Stückzahlen Konsumgüter zu einem extrem niedrigen Preis anbieten kann. Dieses Wirtschaftssystem scheint „Reichtum für alle“ zu versprechen, da Konsumenten immer unabhängiger von ihrem Vermögen Zugang zu einer größeren Bandbreite an Konsumgütern bekommen. Die teilweise schlechten Produktionsbedingungen der Ware, die im Zusammenhang mit der Massenproduktion (vor allem der in Ländern des globalen Südens stattfindenden Massenproduktion) den niedrigen Preis erst möglich machen, werden durch die Werbung geschickt überspielt.
Darüber hinaus sind die billig angebotenen Konsumgüter deshalb so preiswert, weil sie in großen Mengen produziert werden. Damit eine Ware so günstig, wie beim Discounter üblich, angeboten werden kann, muss diese von Maschinen produziert werden, die sich erst nach dem Verkauf einer gewissen, sehr hohen Stückzahl an von ihnen hergestellten Produkten in ihrer Anschaffung lohnen.
Nicht die Anzahl der in der Gesellschaft benötigten Waren bestimmt somit im Zweifelsfall die hergestellte Menge, sondern die notwendig zu verkaufende Stückzahl seitens der Konzerne. In diesem Mechanismus liegt auch der Zwang der Konzerne begründet, mittels teils aggressiver, teils subtiler Werbung die Nachfrage nach bestimmten neuen Produkten erst zu generieren. Werbung und von dieser geprägtes gesellschaftliches Umfeld vermitteln dem Konsumenten das Gefühl, zur Erreichung von Lebensglück bestimmte neue Produkte konsumieren zu müssen, ohne dass er den Nutzen derselben davor gesehen oder das Bedürfnis nach dieser Innovation ausgedrückt hätte. Der Erfolg aus dieser Strategie ergibt sich daraus, dass das erhoffte Lebensglück durch den Konsum neuer Güter selbstverständlich nicht erfüllt wird.
Es ist sehr fraglich, ob eine Wirtschaftsform, die den Konsumenten verspricht, die Preise für Konsumgüter so stark wie nur möglich zu verringern, tatsächlich das angemessene System für diese Gesellschaft darstellt. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie billig Konsumgüter im Vergleich zu anderen Ausgaben, die private Haushalte tätigen, zur Zeit sind, lässt sich folgende Statistik betrachten: In Deutschland werden durchschnittlich für die Bereiche „Ernährung, Getränke und Tabakwaren“ 13,9%, für „Innenausstattung, Haushaltsgeräte und –gegenstände“ 5,5% und für „Bekleidung und Schuhe“ 4,6% des monatlichen Budgets von Privathaushalten ausgegeben. Für „Wohnung, Energie und Wohnungsinstandhaltung“ betragen die Ausgaben hingegen 34,4%; der Bereich „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ liegt mit 10.9% nicht weit hinter den Ausgaben für Ernährung.
Es muss daher gefragt werden, ob sich das Geschäft für den Bürger lohnt, der in einem System von kapitalistischer Massenproduktion die Vorteile kostengünstiger Konsumgüter genießt, während gleichzeitig Investoren mit Immobilien spekulieren und Wohnraum dadurch massiv verteuert wird.
Doch im Vertrauen auf die Aussagekraft der Wirtschaftsleistung und ihres Wachstums über den materiellen „Wohlstand“ der Bevölkerung und der vermeintlich daraus ableitbaren Lebensqualität derselben, wird eine bewusste Verringerung oder ein Stopp des wirtschaftlichen Wachstums vielfach als Angriff auf das Wohlergehen der Bevölkerung betrachtet. Der Umfang frei gestaltbarer Zeit beispielsweise und die Intensität der Arbeitsbelastung können wohl nach allgemeinem Verständnis ebenfalls sehr starken Einfluss auf die empfundene Lebensqualität haben, lassen sich eben nur schwerer erheben als Einkommen und BIP.
Die Prognosen der Politiker und die Forderungen der Unternehmen kündigen aber seit einiger Zeit unter dem Schlagwort „Arbeitszeitverlängerung“ eine immer größere Verknappung der Freizeit und eine stetige Vergrößerung der individuellen Arbeitsbelastung an. Deren Notwendigkeit wird mit der steigenden Lebenserwartung begründet und als Weg Deutschlands aus der Wirtschaftskrise gepriesen.
Ein Vorschlag für einen treffenderen, umfassenderen Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand als das BIP, ist von der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ gemacht worden. In ihrem Abschlussbericht schlägt diese beispielsweise einen Index vor, der sich aus Faktoren zusammensetzt, die den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales entstammen und rät zur Berücksichtigung von Aspekten der Arbeit und des Konsums, die sich nicht in Geldwert ausdrücken lassen, das Wohlbefinden und somit den Wohlstand der Bürger aber nichtsdestoweniger stark beeinflusst. Beispiele für derartige Faktoren sind Freizeit, Zeitverlust auf dem Weg zur Arbeit, Stress oder körperliche Belastung.
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