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Degrowth im Europa der Krise

29.09.2014

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Von Felicitas Sommer

Während der internationalen Degrowth-Sommerschule an der »Universitat Autònoma de Barcelona« unterhielt sich Felicitas Sommer mit dem Commons-Forscher Aggelos Varvarousis, der Soziologin Lúcia de Oliveira Fernandes und dem Aktivisten und Wissenschaftler der ökologischen Ökonomien Claudio Cattaneo.

Felicitas Sommer: In vielen südeuropäischen Ländern brechen die öffentlichen Versorgungssysteme zusammen. Der Zugang zu medizinischer Versorgung und öffentlichen Bildungseinrichtungen, der Anspruch auf Pensionen und Gehälter ist inzwischen einem Großteil der Bevölkerung in Griechenland verwehrt. »Krisis« benennt im Altgriechischen eine problematische Situation, die eine Entscheidung erzwingt. Die Wirtschaftskrisen könnten trotzdem auch einen Wendepunkt darstellen, in dem sich aus den gesellschaftlichen Nischen neue Formen des Wirtschaftens entwickeln. So sehen das jedenfalls viele Degrowth-Aktivisten. Das Verhältnis zwischen Degrowth-Perspektive und Krisenwahrnehmung ist und bleibt jedoch ambivalent. Deswegen sitzen wir jetzt hier in den Gärten der Kommune »Can Masdeu«. Das verlassene Krankenhaus wurde vor mehr als 20 Jahren besetzt und wird seitdem von einer Gemeinschaft bewohnt. Es liegt auf einem der bewaldeten Hügel am Rande Barcelonas und ist ein wichtiger Treffpunkt für die Nachbarschaft und für lokale wie internationale politische Initiativen. Das ehrwürdige Ziegelsteinanwesen inspiriert die Vorstellung von einer freiwilligen Selbstreduzierung sehr. Es könnte von der Veränderung erzählen, die im eigenen Leben beginnt und nicht im Rückzug von der Gesellschaft endet. Lúcia, Claudio, Aggelos: Ihr drei lebt und forscht in europäischen Ländern, die stark von der Wirtschaftskrise betroffen sind?– in Portugal, Spanien und Griechenland. Was bedeutet »Degrowth«?– und besonders die Komponente der »Voluntary Simplicity«, der freiwilligen Genügsamkeit – in diesen Ländern? Zwingen Rezession und Sparkurs die Menschen dort nicht ohnehin dazu, anders zu wirtschaften? Kann man diese informellen Wege aus der Not schon als Degrowth-Initiativen interpretieren? Welche Reaktionen auf die instabilen Lebensumstände der Wirtschaftskrise siehst du zum Beispiel in Griechenland, Aggelos?

Aggelos Varvarousis: Die Krise unterdrückt die Menschen, und sie schafft eine Bedrückung, die über den Einzelnen hinausgeht: eine Art kollektive Depression. Genau das ist eine ambivalente Situation: Viele Griechen glauben nicht mehr, dass eine erneute Runde von Wachstum und materiellem Wohlstand ansteht, als wäre nichts gewesen. ­Einige Menschen beginnen daher zu experimentieren. In den letzten Jahren entstanden viele neue Ökodörfer. Das Gemeinschaftsprojekt »Elpidohori« – übersetzt »Dorf der Hoffnung« – ist eines davon. Die Initiative »Alithina elefthera« (»Wahrhaft frei«), erforscht und unterstützt Ökodorf-Gründungen. Allein in den letzten Jahren sind etliche soziale Apotheken, mehr als 100 Tauschnetze sowie viele solidarische Betriebe und Kooperativen entstanden.

Felicitas Sommer: In Griechenland wird ganz und gar nicht freiwillig reduziert. Lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung auf die Krise von den Degrowth-Initiativen unterscheiden?

Aggelos Varvarousis: Es ist offensichtlich, das Degrowth und Rezession nicht dasselbe sind. »Degrowth« ist der Sammelbegriff für die Strategien, die nötig sind, um einen Rückgang von Produktion und Konsum sozial zu gestalten. Er bedeutet auch, dass wir nicht mehr nach Wachstum streben, weil sich das Problem darin selbst generiert. In Griechenland erleben wir nun zum ersten Mal, dass eine kommende Generation mit weniger leben muss als die vorherige. Der Glaube an den kontinuierlichen Fortschritt hat also einen harten Schlag abbekommen. Das lässt die Menschen in Griechenland daran zweifeln, dass Wirtschaft, Gehälter und Rücklagen immer so weiterwachsen. Von politischen Strategien der »Empörten« auf den städtischen Plätzen bis hin zu konkreten alternativen Projekten einer solidarischen Ökonomie und den verschiedenen Commons-Initiativen – in Griechenland gibt es mehr als nur Reaktionen auf das Entstehen eines kurzfristigen Bedarfs. Viele Ansätze versuchen, Wege zu finden, jenseits des bisherigen Imperativs zu leben.

Felicitas Sommer: Lúcia, wie ist das in Portugal? Meinst du auch, dass Menschen dort durch die Krise neue Wege finden?

Lúcia de Oliveira Fernandes: Sicherlich gibt es viele neu entstandene Bewegungen in Portugal. In allen geht es darum, Wissen und Gebrauchs­güter zu teilen, öffentliche Räume zu besetzen oder zu schaffen. Aber die wenigsten gehen dabei auch auf Umweltaspekte ein. Zum Beispiel hat sich ein Gemeinschaftszentrum in Telheiras organisiert, das übriggebliebenes Essen aus Restaurants am Ende des Tages kostenlos verteilt. Ihre nationale Organisation heißt »ReFood«. Die Menschen verbinden ihr Tun dort aber nicht mit einer Degrowth-Perspektive, sie rahmen ihre Handlungen nicht in die größeren Zusammenhänge – wie die Ursachen von Armut, Ressourcenknappheit oder Peak Oil – ein. Ich bezweifle stark, dass es bei vielen dieser Bewegungen um mehr geht als darum, irgendwie mit der Krise fertigzuwerden. Eigentlich wollen alle zurück zu ­einer »guten und fruchtbaren« Wirtschaft, so wie sie vorher war. Damit meinen sie ein wachsendes Bruttosozialprodukt und für jeden eine Vollzeitstelle. Die Vorstellung, dass wir alle weniger arbeiten könnten, ist nicht populär.

Claudio Cattaneo: Ich denke trotzdem, dass Nachbarschaftsbewegungen etwas sehr Wichtiges sind, weil sie einen Anfang darstellen. Es geht darum, sich zu vernetzen. Wenn abseits der politischen Debatten viele Praktikerinnen zeigen, wie man anders leben kann, muss die Degrowth-Idee vielleicht gar nicht in deren Vorstellung verankert sein. »Degrowth« ist für mich also einerseits die Praxis und andererseits eine Provokation für das vorherrschende Wachstums­paradigma. Das eine braucht das andere!

Lúcia de Oliveira Fernandes: In Portugal kommt erschwerend hinzu, dass viele eine Politisierung der Transition-Bewegung nicht wollen. Die Militärdiktatur bis 1974 hat in Portugal ein Vakuum an politischer Kultur erzeugt. Das stellte ich kürzlich anhand einer Reihe von ausführlichen Interviews fest, die ich im Rahmen eines Forschungsprojekts in Lissabon über die Transition-Initiativen führte. Trotzdem will ich nicht abstreiten, dass Krisen als Chance für neue Wege gesehen werden können. In gewisser Weise tun wir das auch in dem Forschungsprojekt »Compolis«. Dort geht es um die Organisationsweise von Transition-Initiativen. Wir möchten einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion der »Toxic Cultures« liefern. »Vergiftende Kultur« bezeichnet das Phänomen, dass Arbeitsumfelder uns immer häufiger krank machen, weil vertrauensvolle und erfüllende menschliche Beziehungen fehlen und psychischer Druck oder auch Scheitern nicht abgefedert werden. Die urbanen Gärten und Transition-Initiativen drücken diese Wünsche nach neuen Arbeitsweisen aus – und sie artikulieren Alternativen.

Felicitas Sommer: Claudio, in was für einem Umfeld erlebst du die Krise in ­Spanien?

Claudio Cattaneo: Derzeit wohne ich mit anderen in einer verlassenen Villa in Bankbesitz. Wir recyceln also den Leerstand, der die Krise ausgelöst hat. Wir nutzen den Swimmingpool als eine Art Garten. Es ist schön, zu beobachten, dass man der Elitearchitektur so leicht einen agroökologischen Subsistenzlook verpassen kann (lacht).In Barcelona wurde übrigens eine ganze Reihe von Villen besetzt. Das »Netzwerk der von den Hypotheken Betroffenen« war daran maßgeblich beteiligt. Eine der Aktivistinnen, Ada Colau Ballano, hat für die Wahlen in Barcelona kürzlich eine Koalition der linken Parteien namens »Guanyem Barcelona« – »Barcelona gewinnen!« – gegründet. Sie selbst kandidiert sogar für die Bürgermeisterwahl. Darüber hinaus fordert sie aber, die Rathäuser wieder in die Viertel zurückzuholen. Die zehn Stadtteile sollen sich selbst regieren, statt eine Person über ganz Barcelona entscheiden zu lassen. Das ist ein Schritt in Richtung einer lokaleren, demokratischeren Politik, so wie es etwa in Wien und Berlin auch ist. In gewissem Sinn hat auch das eine Degrowth-Komponente.

Felicitas Sommer: Das Politische soll also stärker in das direkte Umfeld zurückgeholt werden? Der gängige Trend geht ja eher dahin, dass öffentliche Räume und Güter zunehmend eingeschränkt und kommerzialisiert werden. Seht ihr, was das betrifft, auch neue Ansätze?

Aggelos Varvarousis: Was ist ein öffentlicher Raum? Ein öffentlicher Raum ist einer, der nicht privatisiert ist. Ein kommerzialisierter Raum ist nicht mehr öffentlich. Selbst die Räume, die wir als öffentlich bezeichnen, werden doch meistens von einer Autorität überwacht. Wenn wir von »öffentlichen Räumen« sprechen, meinen wir also höchstens »allgemein zugängliche«. Aber wir haben kaum die Rechte, um ebendiese selbst zu reformulieren und zu verändern. Wir sollten eher nach Räumen des Gemeinsamen streben. Die Idee von Degrowth ist im Kern mit der Idee von Demokratie verbunden. Den gemeinsamen Raum zurückzufordern, verknüpft Degrowth natürlich mit einigen weiteren Diskursen – etwa mit dem Recht auf Stadt. »Commoning« ist die Idee von einer Form der Verwaltung, die der Einhegung von Gemeingütern entgegenwirkt.

Felicitas Sommer: Du sprichst die Commons an, redest aber weiterhin von einer »Degrowth-Strategie«, nicht von einer »Commoning-Strategie«. Was unterscheidet die beiden Begriffe für dich?

Aggelos Varvarousis: Das ist ein wichtiger Punkt. Eine neue Bezeichnung für ein gesellschaftliches Geschehen kann den Raum für Diskussionen öffnen – oder ihn verschließen. Mit einer spezifischen Vorstellung von Kommunismus können wir etwa gewisse Dinge nicht mehr diskutieren. Wenn wir von »Degrowth« sprechen, lassen wir alle Möglichkeiten offen, weil der Gesellschaft keine festgelegte Richtung vorgegeben wird. Wir weisen mit diesem Begriff auf die Notwendigkeit der Veränderung hin – und geben im selben Moment den Platz für die vielen Wege dahin frei.

Felicitas Sommer: Soll Degrowth also eher einen Rahmen für Entwicklungen anbieten, die auf eine gerechtere Welt ausgerichtet sind?

Aggelos Varvarousis: Ich denke, das ist zum Teil richtig und zum Teil falsch. Wir wurden in der Vergangenheit sehr von den großen Narrativen (Erzählungen) geprägt – zum Teil auch leidvoll. Degrowth ist ein Narrativ, das den Neoliberalismus angreift, aber keine Vorlage, nach der die Gesellschaft sich wandeln soll. Wir warten nicht auf die »große Party der Veränderungen«. Es geht hier nicht um eine Zukunft, für die wir uns vorbereiten und Massen versammeln. Can Masdeu identifiziert sich nicht nur mit der Degrowth-Idee, es ist auch ein Commons­projekt. Aber aus einer bestimmten Perspektive ergibt möglicherweise mal der eine, mal der andere Begriff mehr Sinn. Strategisch gedacht, ist es sehr nützlich, bei der Vielfalt an alternativen Praktiken einen gemeinsamen Slogan zu verwenden – und damit einen neuen Rahmen zu setzen, der es dem Denken erlaubt, die vorgegebenen Bahnen zu verlassen. Möglicherweise zielen beide Begriffe in eine gemeinsame Richtung. Die verschiedenen Arten von Solidarökonomien etwa können uns zeigen, dass bereits jetzt Alternativen zum Kapitalismus existieren.

Felicitas Sommer: In euren Biografien sind das wissenschaftliche und das politische Engagement für Degrowth eng miteinander verbunden. Deswegen reflektiert ihr wahrscheinlich auch eure eigene Rolle als Forscherinnen und Forscher in der Degrowth-Bewegung. Wie findet diese Bewegung ihre Identität, und wer repräsentiert sie?

Claudio Cattaneo: Es gibt viele revolutionäre Visionen, die auf einer komplexen Idee aufbauen. Das setzt fast voraus, dass es eine Art intellektuelle Avantgarde gibt. Aber braucht man für die Praktiken eines genügsamen Lebens wirklich eine politische Kosmotheorie und wissenschaftliche Diskurse? Ich glaube nicht. Veränderung findet ja durch die Praktiken der gesellschaftlichen Entwicklung statt – egal, ob man es »Degrowth«, »Commoning« oder »freiwillige Genügsamkeit« nennt.

Aggelos Varvarousis: Ich interpretiere das etwas anders. Denken ist eine kreative Tätigkeit: sie ist immer schaffend. Sie ist nie ohne Einfluss. Denken kann überhaupt nicht jenseits der Gesellschaft stattfinden, es ist immer von sozialen Beziehungen umgeben. Was bedeutet es in diesem Sinn für mich, Forscher zu sein? Ich lebe in Griechenland mehrere Monate auf einer Insel in einer Lebensgemeinschaft auf dem Land. Dort höre ich nicht auf zu denken. Es hat einen Einfluss auf dich, Claudio, dass du in einem besetzten Haus lebst und Aktivist bist! In deiner Person ist das beides miteinander verbunden. Warum sollten wir unsere gesellschaft­liche Rolle über unseren Anteil am Wissenschaftsbetrieb definieren? Denken ist ein kreativer Prozess, aber er kann überall stattfinden, wo jemand sein Handeln reflektiert. Dieses Pendeln zwischen Denken und Handeln kann von beiden Seiten aus beginnen, aber es verändert in jedem Fall beide Prozesse.

Lúcia de Oliveira Fernandes: Ich denke, die Wissenschaft könnte ganz anders mit den Bewegungen kooperieren, wenn sie anders institutionalisiert wäre. In Brasilien, wo ich herkomme, wird es viel mehr akzeptiert, Forschung und Aktivismus zu verbinden. Zumindest habe ich in den 199oer Jahren diese Erfahrung in der Umweltbewegung gemacht. In Portugal versuchten wir einige Zeit, mit Hilfe von Aktivismusforschung Brücken zwischen verschiedenen sozial-ökologischen Bewegungen zu bauen. Die Initiativen ziehen – so ähnlich ihr Problem sein mag – an unterschiedlichen Strängen. Dann bleibt zum Beispiel der Widerstand gegen Monsanto an wenigen hängen, weil andere und ähnliche agro-ökologische Gruppen nicht die Verbindung zu ­ihrer eigenen Arbeit sehen. Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass wenig Kommunikation und Vernetzung über die Gruppengrenzen hinaus stattfindet. Mit dem Begriff »Agro-Ökologie« haben wir versucht, empirisch die Schnittmengen zwischen verschiedenen Bewegungen zu finden. Aus der gemeinsamen Identität hätte sich vielleicht eine bessere Zusammenarbeit entwickeln können. Bis zu einem gewissen Maß hat das ja auch funktioniert. Aber insgesamt ist es frustrierend, zu sehen, wie wenig die Forscherinnen daran interessiert sind, nach dem gesellschaft­lichen Wert ihrer Arbeit zu fragen. Dabei ­gehen so viele Möglichkeiten verloren, Wissen und Fähigkeiten zu teilen, die ­nötig sind, um Infrastrukturen des Wandels zu bauen! Dafür müsste ein Kontakt zwischen Wissenschaftlern und Aktivistinnen hergestellt werden. Aber den meisten Angestellten im wissenschaftlichen Betrieb geht es um einen guten Job, um die nächste Publikation. Das Wissenschaftssystem ist auf einen Wettbewerb untereinander ­ausgerichtet – nicht auf die Zusammenarbeit mit der ­Gesellschaft. Vielleicht wird sich das in den nächsten Jahren ändern.

Felicitas Sommer: Mir ist nicht klar, wem die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure schließlich mehr nützt: Wer beginnt, wen zu repräsentieren? Wem stehen die Medien und Kanäle zur Verfügung, über die letzten Endes jeder die vielfältigen gesellschaftlichen Prozesse auf seine Weise interpretiert?

Aggelos Varvarousis: Wir reden von einer Transformation, in der sich vielfältige Kräfte versammeln. Gäbe es nicht die vielen informellen Ökonomien, die in Griechenland entstehen, dann könnte man sie auch nicht theoretisieren. Würde das nicht getan, bliebe ihr politischer Einfluss marginal. In diesen Prozessen entstehen immer Widersprüche, aber das erhält sie auch am Leben.

Felicitas Sommer: Habt herzlichen Dank für das schöne Gespräch!

Die Erstveröffentlichung in der Ausgabe 28 des Magazins OYA finden Sie hier.

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