Soziale Bewegungen sind zentrale Akteure gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Durch ihre Arbeit sind viele der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte erst möglich geworden. Für soziale Bewegungen ist es jedoch eine Herausforderung, interne Strukturen nach den partizipatorischen, demokratischen, transparenten, gleichberechtigen und inklusiven Anforderungen zu gestalten, die sie selbst an die Gesellschaft haben.
Ergebnisse feministischer Bewegungsforschung zeigen, dass soziale Bewegungen selbst vergeschlechtlichte Strukturen und Geschlechterhierarchien aufweisen und nach diesen organisiert sind. Denn Geschlechterverhältnisse beeinflussen den politischen und kulturellen Kontext, in den soziale Bewegung eingebunden sind. Sie finden sich in den Strukturen, Strategien und dem Framing sozialer Bewegungen wieder.
Um Gerechtigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen in den Blick zu bekommen, müssen zentrale politische Herausforderungen aus der Geschlechterperspektive analysiert und geschlechterpolitische Ziele in Lösungsansätze einbezogen werden.
Auch für die Degrowth-Bewegung gilt: Um ihr Ziel einer gerechten sozial-ökologischen Transformation nicht von vorne herein zu verfehlen, muss sie Geschlechtergerechtigkeit als Querschnittsaufgabe integrieren. Bisherige Forschung zeigt, dass Akteur*innen der Degrowth-Bewegung zwar eine generelle pro-feministische Einstellung teilen, (öko)feministische Überlegungen innerhalb der grundsätzlichen Konzeptionen der Degrowth-Bewegung jedoch keine Berücksichtigung finden. Und dies, obwohl feministische Wachstumskritik große Schnittstellen mit dem Konzept Degrowth besitzt und als wichtige Inspirationsquelle dienen kann, um neue Verständnisse von Wohlstand und Lebensqualität in gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen zu erschaffen. Das ungenutzte Potenzial dabei: Die Geschlechterperspektive könnte die Degrowth-Bewegung darin bestärken, Wachstumszwänge als herrschaftlich über Mensch und Natur zu begreifen und somit eine emanzipatorische sozial-ökologische Transformation bekräftigen.
Anhand von Expert*inneninterviews mit feministisch engagierten Akteur*innen der deutschen Degrowth-Bewegung habe ich deshalb die Relevanz und Integration von Genderaspekten in der deutschen Degrowth-Bewegung analysiert.
Die Expert*innen kritisieren, dass insbesondere in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um das Konzept Degrowth die Genderthematik fachlich-inhaltlich unzureichend integriert sei. Auch fänden feministische Expertise und Inhalte sowohl innerhalb der Degrowth-Bewegung selbst als auch in der Öffentlichkeit wenig Beachtung und Anerkennung. Die Marginalisierung von Genderforschung und kritischer Ökonomie im Wissenschaftssystem sowie Geschlechterungerechtigkeiten und Stereotype im Mediensystem sind Rahmenbedingungen, die eine öffentliche Thematisierung erschweren. Auch sei die Integration von Genderaspekten in die deutsche Degrowth-Bewegung durch die politische Situation eines zunehmenden Konservatismus und Rechtspopulismus eingeschränkt. In der Degrowth-Bewegung selbst würden ‚weibliche’ Lebenswelten ausgeblendet und Machtkritik nicht nur von der konservativen und neoliberalen, sondern auch von der suffizienzorientierten Denkschule missachtet. Feministische Inhalte träfen in Teilen der Bewegung auf Unverständnis und Ablehnung. Zusätzlich schließe die Bewegung selbst durch die Nichtbeachtung von Klassenverhältnissen ‚weibliche’ Lebenswelten weiterer Gesellschaftsschichten aus. Innerhalb der eigenen Gruppe feministischer Akteur*innen sei es durch die Komplexität der Inhalte und einen damit einhergehenden Zeit- und Kräftemangel schwierig, Genderaspekte stärker in die Bewegung einzubringen. Auch gebe es ein Nachwuchsproblem feministischer Akteur*innen in der Degrowth-Bewegung, die bereits Erfahrungen im öffentlichen Auftreten besäßen. Darüber hinaus seien gerade jüngere Akteurinnen von eigenen Care-Verpflichtungen in ihrem Engagement eingeschränkt.
Die feministische Einschätzung meiner Interviewpartner*innen bestätigt die Befürchtung, dass im Gesamtbild der deutschen Degrowth-Bewegung das Verständnis der Wichtigkeit und die Integration von Gender-Aspekten unzureichend ist und sie somit eine der vielen sozialen Bewegung bleibt, welche einen unzureichenden Fokus auf Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit legen. Die Gefahr hinter dieser Ausblendung macht eine Expertin ganz besonders deutlich: „Wenn Degrowth heißt, dass praktisch in der ganzen geschlechtlichen Verteilung von Arbeit die Rollen gleich bleiben, dann kriegen wir ein Degrowth-Patriarchat. Das kann es nicht sein!“.
Nichtsdestotrotz sehen die Expert*innen auch Potenziale und Chancen für die Integration von Genderaspekten. So zeigen insbesondere jüngere aktivistische Personen der deutschen Degrowth-Bewegung Interesse an feministischen Themen und brächten bereits Gender-Sensibilität und einen rücksichtsvollen Umgang mit Care-Verpflichtungen mit. Somit sei in den letzten Jahren die Anerkennung feministischer Positionen in der Degrowth-Bewegung etwas gestiegen. Zusätzlich seien besonders viele Frauen an der Bewegung beteiligt, wovon auch einige wissenschaftlich zu feministischen Inhalten in der Bewegung tätig seien und damit zukünftig feministische Positionen innerhalb der Bewegung und öffentlich vertreten könnten. Die internationale Vernetzung feministischer Akteur*innen der wissenschaftlichen Konzeptdebatte um Degrowth und das neue Projekt des Konzeptwerks Neue Ökonomie „Für den Wandel sorgen!“ in Kooperation mit dem Netzwerk Care Revolution bieten laut den Befragten zudem das Potenzial, die Care-Thematik in der Degrowth-Bewegung zu stärken.
Es zeigt sich: Integrationswille und –bemühungen sind neben feministischen Wissenschaftler*innen vor allem von aktivistischer Seite in der Degrowth-Bewegung vorhanden. Aktuelle Beispiele hierfür sind die gelungene Berücksichtigung von (Queer)feminismus bei Aktionen des Bündnisses „Ende Gelände“, wodurch es der Anti-Kohle-Bewegung nebenbei auch gelang, in feministischen Medien gehört zu werden und die im November geplante erste MitMachKonferenz „für den Wandel sorgen“ zum Thema Sorge-Arbeit und Postwachstum. Erste Schritte eines Reflexionsprozesses in der deutschen Degrowth-Bewegung werden somit gerade begangen. Für den weiteren Weg der Integration, insbesondere in die wissenschaftliche Debatte um Degrowth, bleibt jedoch auch zukünftig feministisches Engagement notwendig.
Um dieses Engagement zu stärken, bedarf es zum einen Formate, die interne Reflexionsprozesse in der Bewegung anstoßen und fachlich-inhaltliche Genderbezüge der Bewegung sichtbar machen, wie zum Beispiel Großveranstaltungen zu Gender auf der internationalen Degrowth-Konferenz und Gender Mainstreaming Prozesse in Organisationen der Bewegung. Zum anderen sollten dringend Vernetzungs- und Unterstützungsangebote geschaffen werden, die feministische Akteur*innen der Bewegung zusammenbringen und ein gebündeltes Auftreten dieser ermöglichen, wie beispielsweise ein Mentoring-Programm und Rhetorik- sowie Medientrainings.
Die Analyse der Relevanz und Integration von Gender-Aspekten in der deutschen Degrowth-Bewegung macht letztendlich eines deutlich: Degrowthakteur*innen und Organisationen müssen sich nun bewegen – denn nur durch die ideelle und finanzielle Unterstützung feministischer Inhalte innerhalb der Bewegung kann diese ihrem Ziel einer (geschlechter)gerechten sozial-ökologischen Transformation ein Stück näher kommen!
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