Auf dem zweiten Planungstreffen im Februar nahm sich der Organisationskreis der Sommerschule die Zeit, um die Frage zu diskutieren, ob Referent*innen aus dem Globalen Süden eingeladen und damit auch Langstreckenflüge finanziert werden sollten. Wie können wir ohne Menschen aus dem Globalen Süden „authentisch“ über Klimagerechtigkeit sprechen? Aber auch: Wie können wir einerseits von Klimagerechtigkeit sprechen und andererseits selber mit der Sommerschule zum Klimawandel beitragen? Innerhalb dieser Diskussion wurde deutlich, wie schwierig und spannend das Abwägen von verschiedenen politischen Prinzipien sein kann, weshalb wir die Debatte hier gern nachzeichnen und öffentlich machen möchten.
Der globale Flugverkehr nimmt jährlich zu und belastet das Klima und die Umwelt immer stärker. Die CO2-Emissionen des Luftverkehrs tragen bereits etwa acht Prozent zur globalen Erwärmung bei. Neben dem Treibhausgas CO2 entstehen durch die direkte Eintragung von Stickoxiden und von Wasserdampf in hohe Luftschichten Klimawirkungen, die zwei- bis fünfmal höher sind als die durch CO2. Darüber hinaus verursacht auch der Fluglärm diverse Umweltschäden. Wenn der Luftverkehr weiter wächst wie bisher, werden die schädlichen Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt bereits in fünf Jahren die des heutigen PKW-Verkehrs übersteigen (Quelle: BUND). Ein Rechenbeispiel: Ein Hin- und Rückflug zwischen Brasilien und Deutschland verursacht 6 t CO2 und damit das Dreifache des klimaverträglichen „Jahresbudgets“ eines Menschen. Bei einem Flug von und nach Australien wären es über 10 t und damit sogar fast das Fünffache (Zahlen: atmosfair.de). Wenn wir uns mit der Sommerschule für Klimagerechtigkeit einsetzen wollen, dann wollen wir den Flugverkehr als Klimakiller nicht noch verstärken, indem wir Referent*innen aus weit entfernten Orten einladen. Doch wenn es einen moralisch vertretbaren Grund zum Fliegen gibt, wäre dies nicht der, dass die gehört werden, die bisher am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben und vor Ort gegen die Auswirkungen kämpfen?
Das Konzept der Klimagerechtigkeit beinhaltet das Ziel, die klimaschädlichen Treibhausgase stark zu reduzieren und den Ausstoß gerecht zu verteilen. Dazu gehört insbesondere auch, dass die ungleich verteilten Auswirkungen der globalen Klimaerwärmung berücksichtigt werden. Schließlich sind oft die Regionen und Menschen am stärksten von Umweltveränderungen betroffen, die nicht nur am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, sondern auch sich am wenigsten gegen die Folgen wehren können. Daher war im Organisationskreis sehr schnell klar, dass wir bei der Sommerschule nicht über Klimagerechtigkeit reden können, wenn wir nicht auch die Probleme und Kämpfe im Globalen Süden einbeziehen. Die Perspektiven von Aktivist*innen der Zivilgesellschaft aus dem Globalen Süden sollen auf der Sommerschule mitgedacht werden. Dabei wollen wir mit ihnen und nicht über sie sprechen. Viele waren der Ansicht, dass wir uns und unsere Argumente von vornherein schwächen würden, wenn wir uns auf der Sommerschule auf Stimmen aus dem Globalen Norden begrenzen würden. Denn nicht zuletzt ist es auch ein Anliegen der Sommerschule, dass Allianzen und Bündnisse zwischen sozialen Bewegungen rund um Klimagerechtigkeit geschaffen werden. Ein Ausschluss von Stimmen des Globalen Südens beschränkt dies oder macht es unmöglich.
So wurde in der Debatte zwar schnell deutlich, dass wir auf der Sommerschule eine möglichst große Vielfalt an Stimmen zulassen möchten, um Klimagerechtigkeit von verschiedenen Perspektiven aus zu verstehen und zu erreichen. Dazu gehören in jedem Fall auch Menschen aus dem Globalen Süden sowie Stimmen von subalternen Gruppen, d.h. von Menschen deren Anliegen strukturell bedingt oft kein Gehör finden. Dies kann in der Regel auch Menschen aus dem Globalen Norden betreffen. Doch hier kam auch die Frage auf: Was haben Aktivist*innen und Expert*innen aus dem Globalen Süden und im weitesten Sinne Subalterne von unserer Einladung? Noch zugespitzter gefragt: Ist es gerechtfertigt sie einzufliegen, damit sie auf einer Lernveranstaltung für weiße (und privilegierte?) Europäer*innen sprechen? Wie können wir die Sommerschule gestalten, dass wir gegenseitig und gleichberechtigt voneinander lernen können? Im Zuge dessen wurden direkt Vorschläge formuliert, um diese Problematik anzugehen. Zunächst wurde empfohlen, dass eingeladene Referent*innen sich nach Möglichkeit weitgehend auch als Teilnehmende einbringen und sich damit als Prozessgestaltende verstehen. Zweitens sollten dann nicht nur einige wenige, sondern möglichst viele „andere“ Stimmen auf der Sommerschule eingebracht werden. Drittens wurde vorgeschlagen, dass das Thema Klimaflucht als Schwerpunkt auf der Sommerschule Eingang finden solle, da es globale und ökologische Gerechtigkeit verbindet und Menschen zu Wort kommen lässt, die in Deutschland und Europa keine Lobby haben.
"Ohne Sicherheiten zu arbeiten bedeutet, sich der Schwächen und blinden Flecken der eigenen Macht- und Repräsentationssysteme bewusst zu werden. Es bedeutet, Fehler und Scheitern zu akzeptieren oder, positiv ausgedrückt, Scheitern als Erfolg zu sehen." (Gayatri Chakravorty Spivak)
Unweigerlich und glücklicherweise führte uns die Diskussion daher aber auch zu der Frage, wer für wen oder was spricht oder sprechen kann. Wer kann überhaupt sinnvoll und gerechtfertigt eine Stimme aus dem Globalen Süden repräsentieren? Wer konstruiert und reproduziert dabei das „Andere“? Uns wurde bewusst, dass wir mit der Auswahl und Einladung von Referent*innen aus dem Globalen Süden immer schon eine Auswahl von bestimmten Perspektiven treffen und diese oftmals selbst zu privilegierten Gruppen gehören, da sie meist gebildet, vernetzt und akademisch sind. Sie werden wohl selten als vulnerabel oder tatsächlich subaltern gelten. Allein der Begriff „Globaler Süden“ ist daher undifferenziert und ungenau und mag uns nicht vor diskriminierenden Reproduktionen schützen. Dafür sind wir als Weiße zu sehr in Rassismus verstrickt. Wenn wir also meinen entscheiden zu können, wer eine Stimme aus dem Globalen Süden sei, wiederholen wir paternalistische weiße Denkmuster. Es erscheint uns unmöglich, aus dieser kolonial-rassistischen Struktur auszubrechen. Es ist uns aber wichtig, diese Denkmuster zu reflektieren und uns für die Selbstreflektion nicht auch noch wohlwollend auf die eigene Schulter zu klopfen. Deshalb wollen und müssen wir das schwierige Thema von Stimme und Repräsentation auch auf der Sommerschule weiter diskutieren.
Aus der vielschichtigen Diskussion entstand ein komplex scheinender Konsens, der jedoch hoffentlich alle Argumente und Bedenken unserer Debatte berücksichtigt: Die Degrowth Sommerschule wird Referent*innen aus dem Globalen Süden einfliegen, aber nur wenn…
Sicherlich haben wir der einladenden Programm-AG damit keine leichten Bedingungen gestellt und das „Ja, aber...“ wird in vielen Fällen wohl zu einem „Nein“ führen. Dennoch eröffnen wir gerade durch Langstreckenflüge die Möglichkeit, zumindest einzelnen Menschen aus dem „Globalen Süden“ eine Stimme und Plattform zu geben. Denn wir wollen Perspektiven des Globalen Südens zu Klimagerechtigkeit auf der Degrowth-Sommerschule neben den Sprecher*innen aus dem Globalen Norden vertreten sehen.
Should arguments for degrowth be anthropocentric or ecocentric? And what does this mean in practice? There is an interesting discussion going on, starting with two recent court rulings in New Zealand and India about rivers being granted personal rights. We present an article by Ashish Kothari, Mari Margil and Shrishtee Bajpai, first published for The Guardian. Several geographically-distan...
Von Angelika Zahrnt „Postwachstum“ war 2010, als unser Buch Postwachstumsgesellschaft (Seidl, I./Zahrnt, A.) erschien, noch ein völlig unbekannter Begriff. Heute ist Postwachstum zwar in vielen Ländern (erzwungene) Realität, aber diese Situation wird offiziell als vorübergehendes Phänomen eingeschätzt, das mittels der üblichen wachstumsfördernden Maßnahmen überwunden werden soll – mit staatlic...
Die Initiative LebensLernOrte ist ein von der Sinn-Stiftung initiiertes und mit Partnern getragenes Netzwerk. Ihr Ziel ist es, Menschen mit Erfahrungsräumen ‘gelebter Zukunft’ in Verbindung zu bringen und Lernprozesse zu begleiten. Jonathan Klodt arbeitet als Koordinator des Netzwerks LebensLernOrte. Auch mit ihm haben wir ein Interview geführt, das fiktiv im Jahre 2030, in einer Zeit [...]