Die UTOPIKON ist jetzt vorbei und der Beweis ist erbracht: es ist absolut möglich, eine "echte" Konferenz mit Keynotes, Workshops, Verpflegung und allem, was dazugehört, geldfrei, vegan, ökologisch und solidarisch zu organisieren. Gleichzeitig hat die Konferenz auch noch unglaublich viel Spaß gemacht: selber etwas zu erleben, von dem es geheißen hatte, das das ja eigentlich gar nicht geht, hat seinen ganz eigenen Reiz. Das inspiriert, macht Mut und gibt Hoffnung, dass auch noch ganz andere Dinge möglich sein können; zum Beispiel solche, die nach unserem von der kapitalistischen Konsumgesellschaft geprägten Alltagsverstand einfach zu schön sind, um wahr zu sein. Genau das ist es wohl, was Tobi Rosswog, Mitinitiator des Netzwerkes living utopia und der UTOPIKON, gemeint hat, als er in seiner Eröffnungskeynote davon sprach "neue Selbstverständlichkeiten zu leben und einzuüben"
Noch einen Schritt weiter geht die Commons-Aktivistin Silke Helfrich, wenn sie davon erzählt, dass es für neue Selbstverständlichkeiten des "Commoning" - also des gemeinschaftlichen und solidarischen Nutzens, Teilens und Verwaltens von Gemeinschaftsgütern aller Art - noch gar keine richtige Sprache gibt, die es erst zu entwickeln gilt. Da entsteht auf einmal tief im Bauch ein leises Gefühl dafür, wie neu das Neue wirklich sein kann, wenn wir es in unseren üblichen und gewohnten Denk- und Spachmustern noch nicht einmal richtig beschreiben können - ein Gefühl sehr nah an der Euphorie. In solchen Momenten wird spürbar, was das auf living utopia –Events häufig zitierte Gedicht von Eduardo Galeano meint:
„Die Utopie sie steht am Horizont. Ich bewege mich zwei Schritte auf sie zu und sie entfernt sich um zwei Schritte. Ich mache weitere 10 Schritte und sie entfernt sich um 10 Schritte. Wofür ist sie also da, die Utopie? Dafür ist sie da: um zu gehen!“Ein einfaches und plastisches Bild, das uns ins Bewusstsein ruft, dass es selbst über unsere kühnsten Träume hinaus noch weitere Horizonte geben kann, die wir mit unsren jetzigen "mentalen Infrastrukturen" (Harald Welzer) noch gar nicht erfassen, geschweige denn leben können
Solch "mentale Infrastrukturen" sind es denn auch, die - bei aller Inspiration und Euphorie – daran erinnern, dass es zwar einfach sein kann, neue Wege zu gehen, aber nicht leicht. Wie hartnäckig sich solche Infrastrukturen selbst in sozial-ökologisch orientierten Kreisen halten zeigt als kleines Beispiel die Tatsache, dass es bei geldfreien Events von living utopia immer eine Zahl Leute gibt, die sich verbindlich anmelden, dann aber im letzten Moment absagen oder einfach nicht kommen. Diese Zahl ist deutlich geringer, wenn bereits ein Teilnahmebeitrag bezahlt wurde, wie der Vergleich mit nicht-geldfreien Veranstaltungen anderer Initiativen zeigt. Es scheint also, als werde eine verbindliche Zusage als weniger wichtig empfunden, wenn kein Geld im Spiel ist, frei nach der Aussage "was nichts kostet ist auch nicht so viel wert". Auf der UTOPIKON selber war es glücklicherweise möglich, fast alle so freigewordenen Plätze mit Nachrückenden zu besetzen, die auch spontan noch kommen konnten und wollten.
Dass ein Geben und Nehmen jenseits von Tausch- und kapitalistischer Verwertungslogik gerade besonders wertvoll ist und sogar auch Grundlage für die gesamte Wirtschaft sein könnte, hat die Autorin und Aktivistin Friederike Habermann in ihrer Keynote aufgezeigt. Aus unzähligen alternativen Projekten hat sie die beiden Prinzipien "Besitz statt Eigentum" und "Beitragen statt Tauschen" herausgearbeitet; Prinzipien, die auch auf der UTOPIKON gelebt wurden. Ein Wochenende lang waren die 300 Teilnehmenden die Besitzer*innen der Forum Factory in Berlin, deren Eigentümer*innen sie für diese Zeit geldfrei zur Verfügung gestellt hatten, und trugen in verschiedenster Form zu der Konferenz bei.
Aus individueller Perspektive geht es vor allem darum, so viel wie möglich zu teilen und zu erfahren, wie schön und befreiend es sein kann, einfach das zur Gemeinschaft beizutragen, was mensch am allerliebsten tut – oder dies überhaupt herauszufinden. Deshalb spielte bei den praktischen Workshops auch das Thema "innerer Wandel" eine Rolle – neben Workshops z.B. zu Wirtschaft jenseits des Wachstums, Commons und praktischen Projekten wie yunity zum Lebensmittelretten und –teilen. So konnte eine Ahnung davon entstehen, dass ein Sein und Tun, das nicht in Geld oder geldwerten Leistungen gemessen wird, einen Eigenwert hat, den wir jetzt noch gar nicht ermessen können.
Bei aller Euphorie, die an vielen Stellen spürbar war war jedoch klar: Die wirkliche Herausforderung liegt darin, den Spirit der UTOPIKON auch in den eigenen Alltag zumindest ein Stück weit zu übertragen. Ein Teilnehmer formulierte das so: "Einsicht ohne tatsächliche Lebenspraxis ist wirkungslos – oft erlebt man solche Räume und kommt in sein altes Leben zurück und alles verpufft" – die mentalen und auch ganz realen kapitalistischen Infrastrukturen lassen grüßen.
Die Notwendigkeit des beständigen Einübens reduktiver Alltagspraktiken war dann auch der Fokus des Vortrags von Niko Paech, der nicht nur über sein Modell einer Postwachstumsgesellschaft sprach, sondern auch über grundsätzliche Prinzipien der Veränderung. Paech wurde nicht müde zu betonen, dass Lebensstile für eine Postwachstumsgesellschaft erst einmal im Alltag eingeübt werden müssen, bevor sie auf gesamtgesellschaftlicher oder politischer Ebene eine Chance haben können. So verstanden können diese in kleinen oder größeren Gruppen eingeübten Praktiken moderner Subsistenz weit über das Private hinausgehen und in ihrem Veränderungspotenzial hochpolitisch wirken.
Neben den Inspirationen durch Keynotes und Workshops ging es auch vor allem darum, Menschen und Ideen miteinander in Kontakt zu bringen. Teilnehmerin Anja fand dabei besonders inspirierend, "dass hier so viele Leute mit den unterschiedlichsten Projekten, Ideen und Träumen zusammengekommen sind, die aber bestimmte Grundwerte zu teilen scheinen". Im World-Café am letzten Vormittag entstand dann auch prompt eine Gruppe, angeregt von Friederike Habermann, die ein ganz großes Event im UTOPIKON-Spirit plant: Das Treffen auf dem Fusiongelände 2017 wird ein großes Sommertreffen für eine offene geld- und herrschaftsfrei(er)e Zukunft."
Für Tobi Rosswog ist auf jeden Fall klar: "Ich möchte mit all meiner Energie und Zeit weiterhin solche Mitmachräume schaffen, um damit gesellschaftlichen Wandel zu gestalten. Denn nur weil etwas heute undenkbar ist, heißt es nicht, dass es unmöglich ist. Es ist eben gerade nur nicht denkbar." Olga aus Berlin sieht das ähnlich und nimmt genau diesen Gedanken mit nach Hause: "es ist viel mehr möglich, als wir denken". Mein persönliches Fazit ist: unabhängig davon, wie es mit den vielen Ideen, die am Wochenende gesponnen wurden, weitergeht, sind wir einen großen Schritt vorangekommen auf dem Weg zur Utopie.
Das Netzwerk Care Revolution veröffentlicht einen lesenswerten Artikel über den Zusammenhang von Degrowth und Care. https://care-revolution.org/aktuelles/care-revolution-und-degrowth-teil-i/
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