Logo degrowth

Blog

100% Postwachstum auf dem Tempelhofer Feld

21.05.2014

Von Daniel Fuhrhop

Sollte am 25. Mai beim Volksentscheid die Mehrheit der Berliner gegen Neubau auf dem Tempelhofer Feld stimmen, dann wäre das ein Sieg für das Postwachstum. Der Begriff wird bezüglich des Bauens beim Wort genommen, denn das bisherige Wachstum zeigt sich bei unablässig neu wachsenden Bürotürmen, Shopping-Centern und Wohnsiedlungen. Es liegt wohl auch am weit verbreiteten Unbehagen gegenüber der bisherigen Bauwut, dass die Initiative „100% Tempelhofer Feld“ soviel Zuspruch erhält. Außerdem bekommen wir immer wieder vorgeführt, wie unwirtlich heutzutage neu gebaut wird, wie sehr an Umsatz orientiert und wie wenig an lebendigen Städten.

VdB_mitText_WEBEinerseits ähnelt die Diskussion um Neubau damit derjenigen um jeglichen Konsum, weil auch hier ökonomische Interessen dominieren: die Bau- und Immobilienwirtschaft, die finanzierenden Banken und Bausparkassen sowie die internationalen Versicherungen und Pensionsfonds, die in Deutschland einen sicheren Hafen für ihr Kapital sehen und darum zum Beispiel in den Bau von Fachmarktzentren investieren. Andererseits liegt die Besonderheit des Bauens in der Umformung unserer Umwelt. Der Neubau von heute formt unsere Städte von morgen, und wo neu gebaut wird, da verschwinden grüne Wiesen vor der Stadt oder mittendrin wie beim Tempelhofer Feld.

100% Berlin - Neubau ist nicht mehr zeitgemäß

Es wäre jedoch nicht weit genug gedacht, wenn sich der Widerstand gegen Bauen auf diese eine Freifläche in Berlin Tempelhof beschränken würde. Weil die Stadt für die Menschen da ist, gehört den Bewohnern 100% Berlin, wie man analog zur Initiative „100% Tempelhofer Feld“ formulieren kann. Und Berlin ist bereits gebaut. Wir brauchen auch beim Bauen kein Wachstum mehr. Das ist die Botschaft des Slogans „Verbietet das Bauen“: Neubau ist nicht mehr zeitgemäß und löst nicht unsere Probleme, sondern schafft neue.

Dies mag vielen heute noch zu radikal erscheinen, weil jahrzehntelang von allen Parteien Bauen als Dogma vertreten wurde, ganz so wie die dogmatische Beschwörung des Wachstums. Doch bei genauer Betrachtung spricht vieles gegen Neubau: Er ist unökonomisch, weil häufig aus Prestigegründen neue Projekte propagiert und schöngerechnet werden, anstatt kostengünstig die vorhandenen Häuser zu nutzen und sie zu sanieren. Neubau ist unsozial, denn er ist teuer und verteuert durch sein Mietniveau benachbarte Altbauten gleich mit. Schließlich aber ist Neubau unökologisch, sogar bei scheinbar ökologischen „Null-Energie-Häusern“: Selbst die müssen erstmal gebaut werden, und dafür ist selbstverständlich Energie nötig – es gibt kein Null-Energie-Haus. Dazu addiert sich nach dem Bau die Energie, um immer mehr Häuser mit Infrastruktur zu versorgen, von Strom und Wasser bis zum Kindergarten.

Eine Postwachstums-Wohnungspolitik fördert das Zusammenleben

Wem jetzt die Schlagzeilen von Wohnungsnot durch den Kopf gehen, der sollte sich nicht irre machen lassen: Trotz der Zuzüge der letzten Jahre liegen die Bevölkerungszahlen bei nahezu allen deutschen Großstädten nicht höher als vor zehn Jahren. Gestiegen ist aber die Wohnfläche pro Person, zum Beispiel in Berlin in den letzten zwanzig Jahren von 33 auf über 41 Quadratmeter. In diesem Flächenanspruch besteht die größte Herausforderung einer Postwachstumsgesellschaft. Wir müssen unsere Einstellung zum Wohnen ändern und uns fragen, wieviel Raum wir wirklich brauchen. Eine Postwachstums-Wohnungspolitik würde fördern, dass wieder mehr Menschen zusammenleben. Da das heute nicht mehr in Großfamilien geschieht, müssen wir andere Formen des Zusammenwohnens unterstützen. Dabei teilt man nicht das Bett und vielleicht nicht einmal das Bad, aber durchaus die Küche und ganz sicher einen Gästeraum.

Nichtbauen bedeutet, die bereits gebauten Häuser wertzuschätzen und sie zu pflegen. Das gilt für denkmalgeschützte Bauperlen genauso wie für manche bescheidenen Bauten der Nachkriegszeit. Wer diese Gebäude genau anschaut, wird ihre Eigenheiten entdecken und kann ihre Qualitäten freilegen. Wenn wir Leerstand vermeiden, Abriss verhindern und Altbauten sanieren, brauchen wir keinen Neubau. Nichtbauen schützt die Landschaft außerhalb der Städte und bewahrt Freiräume innerstädtisch. In einer Gesellschaft nach dem Wachstum bleiben die freien Flächen frei, auch auf dem Tempelhofer Feld.

> Kommentieren Sie diesen Artikel auf dem Blog "Postwachstum"

Daniel Fuhrhops Texte, Podcasts und Filme zum Tempelhofer Feld hier im Überblick: http://www.daniel-fuhrhop.de/beitraege-tempelhofer-feld/

Share on the corporate technosphere


Our republication policy

Support us

Blog

Decolonisation and Degrowth

By: Claire Deschner, Elliot Hurst

Why do degrowth scholars use the word "decolonise" to discuss the process of changing the growth imaginary? Isn’t decolonisation about undoing the historical colonisation of land, languages and minds? How do these two uses of the word relate? This blog post is the result from a discussion held between some participants at a Degrowth Summer School in August 2017. While some parts of this blog...

Blog

Zur Debatte um G20 – zur Abwechslung mal was Inhaltliches

G20 demo rasande tyskar

By: Nina Treu

Was tun, wenn sich die Staats- und Regierungschefs der 20 reichsten Länder der Welt in einer europäischen Großstadt einfinden, um ihre ungerechte Politik in Szene zu setzen? Dieser Frage haben sich zahlreiche linke Organisationen seit letztem Jahr gewidmet. Herausgekommen ist eine bunte Mischung an Protestformen, verteilt über eine Woche. Leider geht die Debatte um den G20-Gipfel aktuell weder ...

Blog

"Die Idee vom Wachstum ist nur EINE Auffassung von Gesellschaft und Wirtschaft."

Martin lindner

Martin Lindner ist Professor für Didaktik der Biologie und Geographie und war Mitorganisator des Buen Vivir-Symposiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In seinem Interview im Rahmen des Stream towards Degrowth zeigt er einige Alternativen zur Wachstumsgesellschaft auf. Stellen Sie sich vor, die Welt erlebt eine Zeit des „guten Lebens“ jenseits des Wachstums. Blicken wir dann, sagen wir [...]