Von Dennis Eversberg und Matthias Schmelzer
Auch wenn Wachstumskritik en vogue ist – in einer Rangliste der „Top 10 Grassroots Movements“ des australischen „Shift Magazine“ nahm es jüngst sogar den ersten Platz ein – gibt es zu Degrowth als einer sozialen Bewegung bisher kaum Forschungen.
In einem neu erscheinenden Aufsatz im Forschungsjournal Soziale Bewegungen präsentieren wir – basierend auf einer Fragebogenerhebung, an der sich 814 der Teilnehmenden der Leipziger Degrowth-Konferenz 2014 beteiligten, und einer umfassenden Clusteranalyse – erste empirische Befunde zum Charakter dieser Bewegung in Form von vier Thesen.
Im Kern argumentieren wir, dass Degrowth eine entstehende aber in sich heterogene soziale Bewegung ist, die im Kern für eine Kapitalismus- und Herrschaftskritik steht, die die individuelle und kollektive Praxis im Hier und Jetzt zum zentralen Ausgangspunkt umfassender Gesellschaftsveränderung macht. Der gesamte Aufsatz kann hier heruntergeladen werden.
Die Frage, inwiefern Degrowth eine soziale Bewegung darstellt oder doch eher nur eine Plattform für die Diskussion von Alternativen, sowie die nach dem emanzipatorischen Gehalt und dem transformatorischen Potential dieser Wachstumskritik sind ausgesprochen umstritten. Vielfach wird auch kritisiert, im Grunde artikuliere sich hier lediglich das postmaterialistische Unbehagen von Teilen der wohlhabenden bildungsbürgerlich-akademischen Milieus, die sich über Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen keine Gedanken machen müssten. Deshalb argumentiere die Wachstumskritik vor allem kulturell und arbeite sich an „Oberflächenphänomenen“ ab, während Kapitalismuskritik und die damit einhergehende konfrontative politische Positionierung vermieden würden.
Dagegen hat zuletzt Ulrich Schachtschneider anhand einer Analyse des Programms der Leipziger Konferenz aufgezeigt, dass zumindest das dort versammelte Spektrum sich weit mehrheitlich hinter emanzipatorischen, herrschafts- und kapitalismuskritischen Ansprüchen zu versammeln scheint. Weiterhin gibt es inzwischen verschiedene Versuche, die Heterogenität der wachstumskritischen Akteur_innen genauer zu fassen und damit auch klarer zu benennen, wem gegenüber solche Kritik gerechtfertigt ist.
Nun beziehen sich diese Kategorisierungen in erster Linie auf die typischen Positionen im Diskurs des Postwachstumsspektrums, wie sie sich in Büchern oder Artikeln nachlesen lassen. Aber finden sich diese Unterschiede auch bei den Menschen, die im Degrowth-Spektrum aktiv sind, in der Breite wieder? Wo verlaufen dort die entscheidenden inhaltlichen Konfliktlinien, und wie viel Unterstützung kommt den divergierenden Positionen dabei jeweils zu?
Jenes wachstumskritische Spektrum, das sich unter dem Label „Degrowth“ versammelt, steht in seiner großen Mehrheit für eine herrschafts- und zunehmend auch kapitalismuskritische Transformationsperspektive. Auch wenn es unter den Teilnehmenden der Degrowth-Konferenz in vielerlei Hinsicht erhebliche inhaltliche Differenzen gab, so waren sie doch verbunden durch einen weitgehend strömungsübergreifend geteilten Grundkonsens, der sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen lässt:
Wachstum ohne Naturzerstörung ist eine Illusion, daher wird in den Industrieländern Schrumpfung notwendig sein. Das bedeutet auch, dass wir auf Annehmlichkeiten werden verzichten müssen, an die wir uns gewöhnt haben. Die notwendige Transformation zu einer Postwachstumsgesellschaft muss friedlich sein und von unten kommen, sie läuft auf die Überwindung des Kapitalismus hinaus, und weibliche Emanzipation muss dabei ein zentrales Thema sein.
Dieser Konsens ergibt sich aus denjenigen Fragen, zu denen weniger als 100 Personen eine zur Mehrheitsmeinung gegenteilige Position einnahmen. So groß auch die Unterschiede in den Motiven für die Befürwortung oder Ablehnung dieser Aussagen gewesen sein mögen, so zeigt dies doch, dass es ein hohes Maß an Einigkeit über zentrale Punkte der gemeinsamen Anliegen gibt und dass diese von einem im Kern herrschaftskritischen Grundkonsens getragen werden. Das lässt viele Fragen nach dem konkreten Verständnis solcher Kritik zunächst offen, macht aber deutlich, dass die von links verschiedentlich formulierte Vorhaltung, der Degrowth-Debatte fehle die Herrschafts- oder Kapitalismuskritik, am Selbstverständnis derjenigen, die sich mit ihren Zielsetzungen identifizieren, vorbeigeht.
Die Degrowth-Bewegung ist in sich selbst heterogen und vielfältig und vereint unterschiedliche Strömungen, deren Orientierungen und Ansätze oft nicht mit der verbreiteten Wahrnehmung von Degrowth übereinstimmen. Es lassen sich fünf Strömungen identifizieren, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer inhaltlichen Einstellungen klar voneinander unterscheiden, sondern auch im Hinblick auf ihre politischen und alltäglichen Praktiken.
Degrowth steht für eine Kapitalismus- und Herrschaftskritik, die die individuelle und kollektive Praxis im Hier und Jetzt zum zentralen Ausgangspunkt umfassender Gesellschaftsveränderung macht. Das Vorhandensein dieser letzten, fünften Strömung scheint uns entscheidend für das qualitativ Neue an der Degrowth-Bewegung. Denn zum ersten ist sie in sozialer wie inhaltlicher Hinsicht ein wichtiger Katalysator der Wahrnehmbarkeit einer Degrowth-Bewegung als Allianz ihrer verschiedenen Strömungen. Zum zweiten – hierauf verweist der hohe Anteil ausländischer Befragter in dieser Strömung – scheint hier das originär mit der Idee der décroissance verknüpfte Transformationsverständnis, das in jüngster Zeit aus den südeuropäischen Ländern in den deutschsprachigen Raum eingewandert ist, am deutlichsten ausgeprägt.
Das gilt zum einen für die erweiterte, nicht rein ökologische, sondern von einem globalen Gerechtigkeitsimpuls getragene Motivation: Die schon im Gesamtsample mehrheitlich geteilte Position, die soziale Ungleichheit bleibe ein größeres Zukunftsproblem als der Klimawandel, und die insgesamt geteilte Meinung, dass in den Industriegesellschaften Schrumpfung unvermeidbar sein werde, werden gerade von der fünften Strömung in dieser Kombination überdurchschnittlich stark bekräftigt. Und zum anderen verdichtet sich hier auch eine Form der Vermittlung von Kritik und Praxis, die über diese Teilströmung hinaus zum Gravitationszentrum dessen geworden ist, wofür „Degrowth“ in seiner Gesamtheit steht.
Zentral ist die Suche nach Formen transformativer Praxis, die am eigenen Alltag ansetzen und auf eine Veränderung nicht nur der sozialen Strukturen, sondern auch und zunächst des eigenen Selbst als Teil derselben zielen. Es geht bei diesen Aktions- und Organisierungsformen darum, nicht nur reale Spielräume für „anderes“ Handeln zu eröffnen, sondern dabei als Handelnde zugleich im Tun „etwas anderes zu werden“, sich zu anderen, in und von nicht-wachstumsfixierten Praktiken erzeugten Subjekten zu machen. Dem entspricht ein ebenfalls anarchistisch beeinflusstes Revolutionsverständnis: „Revolution“ ist kein zukünftiger historischer Bruch, sondern eben jener Prozess gegenwärtiger Selbst- und Weltveränderung, wenn er denn „epidemisch“ wird: Eine richtige, „befreite“ Praxis und Subjektivität ist dieser Vorstellung nach „ansteckend“ und entfaltet sukzessive immer breitere Wirkungen.
Anders als häufig unterstellt bedeutet dies also nicht etwa den Verzicht auf eine weiterreichende transformative Perspektive. Im Gegenteil: Es geht um eine Radikalisierung, insoweit auch die eigene Existenzweise als Subjekt problematisiert und zum Gegenstand der notwendigen Revolution gemacht wird. Statt gegen reale oder imaginierte „Gegner_innen“, die an allem „schuld“ seien, richtet sich die Kritik gegen eine ressourcenintensive, auf globaler Ebene nicht mit einer universalistischen Gerechtigkeitsnorm vereinbare Lebensweise. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, auch die eigenen Mobilitäts- und Konsumpraktiken, Arbeits- und Lebensmuster praktisch hinterfragen zu müssen.
In diesem Licht ist vielleicht auch die (von unseren Befunden durchaus bestätigte) Tatsache, dass es sich bei den Degrowth-Aktivist_innen um eine überwiegend akademisch gebildete, privilegierte Gruppe handelt, neu zu bewerten: Wenn Kern des Anliegens der Bewegung die Skandalisierung globaler Ungerechtigkeiten ist, warum sollte es dann ein Problem sein, wenn gerade Teile derjenigen, die von diesen Ungerechtigkeiten am meisten profitieren, die eigene Lebensweise und deren „mentale Infrastrukturen“ (Welzer) infrage stellen? Voraussetzung dafür, dass diese Form kritischer Praxis breitere Wirkung entfalten kann, ist allerdings gerade die Reflexion auf diese Privilegien und ein Verständnis dafür, dass sich das Problem von anderen gesellschaftlichen Positionen aus gesehen anders darstellt. Dass sich dies in Teilen der Bewegung durchaus nicht von selbst versteht, zeigt die Neigung zu individualisierenden Form der Problematisierung von Lebensstilen und zu personalisierenden Schuldzuschreibungen insbesondere bei Strömung 1 und 3. In welche Richtung sich diese Bewegung entwickelt und wie sie dabei mit ihren inneren Spannungs- und potentiellen Bruchlinien umgeht, wird sich erst in noch ausstehenden Diskussionsprozessen und im Zuge praktischen Lernens aus konkreten Erfahrungen entscheiden.
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