von Frigga Haug Auf dem Kapitalismuskongress von Attac im Jahre 2009 plädierte Heiner Geissler in der Abschlussveranstaltung für eine Ökodiktatur. Schließlich war er aus Besorgnis auch um die ökologischen Probleme der Gesellschaft selbst als prominentes CDU-Mitglied in attac eingetreten und warb jetzt dafür, die etwa 2000 Versammelten möchten in diesem Sinn agieren. Im wachsenden Empörungslärm fanden seine Worte kein Gehör mehr. Es wäre gut gewesen, man hätte ihn ausreden lassen, schon, um eigene Strategien in Auseinandersetzung entfalten zu können. Dies war zum Abschluss dieses Mammutkongresses nicht mehr möglich. Dabei hatte Geissler auch im Unrecht Recht. Es müssen außergewöhnliche Mittel gefunden werden, um das zerstörerische Wachstumsprimat kapitalistischen Wirtschaftens zu bremsen. Unrecht, dass eine Diktatur diesen Gesamtprozess ins Ungefährliche steuern könne, gewissermaßen wohl unsere Lebensweise, aber nicht uns als Menschen einzubeziehen. Wie dann?
Hierzu ist das Meiste bekannt und inzwischen Gemeingut; die Triebfedern: Profit und Macht für mehr Profit; die Folgen: Ressourcenverbrauch bis zur Erschöpfung und Krieg um Rohstoffe; Klimaveränderung bis zu Katastrophen; Hightech bis ins Genmaterial; Konkurrenz bis ins Kinderzimmer und wachsende Not und Elend in immer größerem Ausmaß auf der einen Seite, Bereicherung in verbrecherischem Ausmaß auf der anderen.
Inzwischen sind die Folgen bis in die einzelnen Haushalte, in den Leben der Einzelnen spürbar. In Krise auf Krise wird deutlich, dass die alten Lebensweisen und ihre gewohnten Herrschaftsstrategien mit auf die Anklagebank gehören, wollen wir unsere Beteiligung am Zustand dieser Welt so verändern, dass besseres Leben allgemein möglich werde.
Das betrifft die Geschlechterverhältnisse mit ihrem Gefolge der Vernachlässigung alles Lebendigen, soweit es keinen Profit bringt, gestützt durch Jahrtausende währenden Einsatz von Frauen, Leben zu gebären und zu erhalten in allen Formationen, ohne dass dies in die Regulierung der Gesamtökonomie nennenswert Eingang findet, wohl aber in das Leben der Gesellschaft, die fürsorgliches Verhalten als Luxus, den sie sich nicht leisten kann, hoffnungslos vernichtet.
Es betrifft entsprechend die Entwicklung der einzelnen als Menschen mit all ihren Möglichkeiten und Anlagen, die verkümmern, wie Pflanzen ohne Wasser in der Wüste und dies für normal zu halten. Das Leben also nicht zu nutzen. In den multiplen Krisen schrumpft auch die Vorstellung davon, man könne selbst musizieren, malen, dichten, reden, dass man gehört wird, in die Passform, koste es, was es wolle, zu funktionieren, zu leisten und zu sterben, bevor man ganz arm ist. Glück schrumpft in die Perspektive, überhaupt noch einen Ausbeutungsplatz (genannt Arbeit) zu bekommen, was schon in der heutigen Jugend je nach Rang des Landes in der Welt für viele nicht mehr erreichbar wird.
Es betrifft auch die zur Gewohnheit gewordene Überlassung der Regelung des Gemeinwesens, als hätte man selbst nichts damit zu tun, an andere und selbst unter den Folgen zu leiden bis hin zu Krieg und Umweltkatastrophen, als sei es Schicksal; Subalternität und Dummheit als Lebensform zu akzeptieren; dem Unrecht nicht in den Arm zu fallen und nicht zu zweifeln an allem. Sich also nicht zu ermächtigen und auf diese Weise Macht für andere unkontrolliert zu erlauben.
Es betrifft auch die Weise, wie die gesellschaftliche Arbeit geregelt ist. Da geht es nicht nur um die Verteilung in Arbeit, die Einkommen bringt und solche, die es nicht tut. Dieses Verhältnis wird durch die herrschenden Geschlechterverhältnisse auf Kosten von Frauen tragbar gemacht. Es betrifft auch die Qualität und Dauer der Arbeit, also wie sehr die Erwerbsarbeit den menschlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten angemessen gestaltet ist. Unter unseren entwickelten Produktivkräften der Arbeit wäre lange schon eine Verkürzung der Erwerbszeit auf die Hälfte und eine Durchbrechung der Verteilung in entwickelnde und eher repetitive Arbeit menschlich machbar. Dumpf werden einzelne Arbeitsarten nur, wenn sie die Poren des Tages füllen, statt eine Abwechslung in andern Arten zu sein.
Die Anordnung und Abschottung dieser vier Bereiche gegeneinander, ihre Besetzung durch unterschiedliche Personen, hat eine Herrschaft verknotet, die der kapitalistischen Produktionsweise, wenngleich krisenhaft, zur Dauer verhilft. In ihre Bereiche gesperrt entwickeln die einzelnen Widerstandsgeist und Verantwortung, die in den je einzelnen Bezirken steckenbleiben: in der Familie, im Festhalten am Erwerbsplatz, in der Bescheidung auf ein armes Leben in der Verantwortungslosigkeit für die Gesellschaft im Ganzen. Es gilt, einen Schritt zurückzutreten, und diese Anordnung als Ganze zu verändern.
In der Krise der Wachstumsgesellschaft wird immer deutlicher, dass es so nicht weitergeht. Aber zugleich wird klarer, dass die einzelnen an dieser Anordnung und ihrer Beschränkung teilhaben. Ohne sie wird es keine Veränderung im Sinne einer Umkehr in eine Nicht-Wachstumsgesellschaft geben.
Das Plädoyer richtet sich jetzt darauf, die Bereichsgrenzen zu durchqueren, die Ordnung nicht zu lassen, wie sie ist, sondern als einzelne eine gemeinsame Kultur einer anderen Lebensweise zu entwickeln, jeden der vier Bereiche zu betreten zu gleichen Teilen – unabhängig von Geschlecht, Klasse und Rasse das Verfügtwerden zu durchbrechen, sich zu ermächtigen. Die Verfügung über Zeit als politische Aufgabe anzunehmen und diesen politischen Kampf zu fechten. Das heißt auch, in der Verantwortung für die Erde, sich nicht mit der individuellen Mülltrennung bescheiden zu lassen; in der Verantwortung für die nächste Generation nicht mit dem Versprechen, dass das je eigene Kind etwas wird, wenn die Eltern die Aufsicht über die Hausaufgaben übernehmen; nicht zu glauben, dass Kunst ohnehin nichts für die Massen ist, sondern die Zeit und Mittel dafür erstreiten; sich nicht damit zufrieden geben, dass politische Gestaltung bloß den Parlamenten obliegt, in die man je individuell vielleicht gar nicht möchte.
Eine Umkehr aus der Wachstumsgesellschaft ist nicht als Diktatur von Oben möglich und auch nicht durch das Verhalten einzelner etwa bei der Wahl der Lebensmittel im Supermarkt. Aber es ist eine Postwachstumsgesellschaft auch nicht möglich ohne die Einzelnen, da diese kapitalistische Herrschaft durch alle mit getragen wird in den Gewohnheiten, Normen, Verhalten, Zielen, Hoffnungen und Perspektiven. Struktur und subjektives Verhalten sind keine alternativen Ausgangspunkte und verschiedene politische Wahl. Sie hängen ineinander als Trennungszusammenhang. Es ist notwendig, dass alle einzelnen eine kollektive Kultur einer anderen Gesellschaft entwickeln, in der die getrennten Bereiche zusammengeführt werden, alltäglich und kulturell. Es ist ein langer Prozess, aber wir haben ihn schon begonnen.
Literatur: Frigga Haug, Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke. 3A, Hamburg 2011 > Kommentieren Sie diesen Artikel auf dem Blog "Postwachstum"Wer schon einmal vom guten und hierarchiefreien Leben für alle entsprechend individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten in gegenseitiger Wertschätzung und Kooperation geträumt hat, kann jetzt dazu beitragen, dass dieser Traum konkret wird: Vom 21. bis 25. Juni treffen sich im Kulturkosmus Müritz in Lärz, Mecklenburg-Vorpommern, rund 1000 Menschen, um "Miteinander offen vertrauensvoll und ema...
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