Von Gerrit von Jorck
Vor einiger Zeit habe ich mich bei einer Wanderung mit dem Vater einer guten Freundin unterhalten. Er kommt selbst aus armen Verhältnissen, ist in den 1950er Jahren geboren und war das älteste von drei Kindern seiner alleinerziehenden Mutter. Inzwischen ist er ein weltbekannter Professor und sieht seine drei Kinder meist zufällig, wenn er gerade mal wieder auf einem Kongress in einem ihrer Studienorte gelandet ist. Er lebt den „amerikanischen Traum“, hat es vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft, doch bei dieser Wanderung im Harz erzählte er mir, dass ihm eines fehle: Zeit.
Ein solcher Trade-off zwischen Einkommen und Zeit ist zunächst einmal nicht sehr überraschend. Die Erzählung vom „amerikanischen Traum“, die wohl ein weltweiter Exportschlager ist, verspricht ja eben: Durch Arbeitsleistung, vereinfacht ausgedrückt, den Verzicht auf die freie Verfügung über seine Zeit, kann man zu materiellem Wohlstand kommen. Doch ist es wirklich dieser Tausch zwischen Einkommen und Zeit, für den sich jedes Individuum frei entscheidet? Oder ist diese Wahl nicht vielmehr in ein gesellschaftliches System eingebettet, welches diese Entscheidung bereits für einen getroffen hat?
In dem Buch „Zeitwohlstand. Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben“ des Konzeptwerks Neue Ökonomie diskutieren Hartmut Rosa, Niko Paech, Friederike Habermann, Frigga Haug, Felix Wittmann und Lena Kirschenmann diese und andere Fragen.Das Buch beginnt damit, dass es sich selbst in verschiedene Zeitraster einteilt. Zu jedem Kapitel finden sich zeitliche Angaben, je nachdem ob man bloß schnell mal durchblättern, sich entspannt in den Lesesessel kuscheln oder man die einzelnen Kapitel studieren möchte. Ich habe mich für das entspannte Studieren entschieden. Dafür werden 4-6 Stunden veranschlagt, ich selbst habe die Zeit nicht gestoppt. Zunächst haben mich diese Zeitangaben irritiert, bis ich von einer Freundin erfahren habe, dass diese Zeitangaben bei E-Readern völlige Normalität seien. So fügt sich das Lesen perfekt in die Taktung zwischen zwei Meetings.
Doch was ist das nun eigentlich: Zeitwohlstand? Für Friederike Habermann ist es „die Freiheit, so zu leben, wie wir es wollen“ (Habermann, S. 15). Sowohl unser Arbeitsleben als auch unsere Freizeit seien zunehmend vom Wettbewerbsgedanken durchzogen. Darunter litten sowohl die Gewinner als auch die Verlierer des Wettbewerbs. Die einen seien über- und die anderen unterfordert. Beiden fehle „Zeit, Muße, Sinnhaftigkeit ihres Tuns und soziale Einbettung“ (Habermann, S. 18). Eine wesentliche Ursache dafür sieht Habermann im monetären Belohnungssystem, welches zu einem „Crowding out of motivations“, also dem Verlust innerer Motivation führe. Dem stellt sie eine „Ecommony“ gegenüber, in welcher innere Motivation und soziale Beziehungen die Anonymität von Geld und Wettbewerb ersetzen sollen. Dies soll helfen, die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu überwinden, indem vielmehr in Tätigkeiten und Projekten gedacht würde. Ob dies dem Vater meiner Freundin weiterhilft? Bei ihm scheint die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit schon längst überwunden, doch gerade deshalb fehlt ihm nun die freie Zeit, seine Töchter zu besuchen.
Frigga Haug stellt daher die Frage, wer eigentlich über unsere Zeit verfüge. Sie erinnert daran, wie Peter Hartz den Begriff der Arbeitszeitsouveränität geprägt hat. Das Ende der Arbeitszeiterfassung sei laut Hartz der erste Schritt zu einer neuen Mündigkeit (Haug, S. 29). Der Arbeitnehmer werde zum Unternehmer, zur Ich-AG. Er bestimme zwar individuell über seine Zeit, sei aber in einen gesellschaftlichen Wettbewerb um „Beschäftigungsfähigkeit“ (Haug, S. 30) eingebettet. Gesellschaftlich notwendige Arbeit gebe es dieser Logik zur Folge nur auf dem Arbeitsmarkt. Unbeachtet blieben:
die Reproduktionsarbeit, also die Arbeit an sich selbst und an anderen Menschen,
die Zeit für die eigene Entwicklung, auch der nicht-marktkonformen Talente, und
Zeit für Politik, also der aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen.
Haug fordert daher „Teilzeitarbeit für alle“ (Haug, S. 37), nicht als Ausweitung prekärer Beschäftigung, sondern als neuen gesellschaftlichen Standard (vgl. Vier-in-Eins-Perspektive). Das Leben des weltbekannten Professors würde so wohl vom Kopf auf die Füße gestellt. Doch wie darf man sich einen weltbekannten Professor in Teilzeit vorstellen? Karriere auf Teilzeit ist das möglich?
Niko Paech ist selbst Professor. Zeitwohlstand heißt für ihn „weniger verbrauchen, mehr selbst machen“ (Paech, S. 41). Konsum sei einer unserer größten Zeitfresser, dabei fehle häufig die Zeit sich mit seinen Konsumgütern überhaupt noch so weit zu beschäftigen, dass ihr Konsum tatsächlich Zufriedenheit bewirken könne. Konsumverzicht führe auch zu mehr Unabhängigkeit von Geld und Erwerbsarbeit. Anstatt seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, habe sich in unserer Gesellschaft ein „Recht auf Hilflosigkeit“ (Paech, S. 43) eingestellt. Für beinah jedes Problem biete der Markt eine Lösung an, für eine Existenz unabhängig vom Markt fehlten den meisten die grundlegendsten Fähigkeiten. Unsere Gesellschaft habe sich an Einheitslösungen für standardisierte Probleme gewöhnt, dadurch jedoch zu einem Großteil die Möglichkeit des kreativen Schaffens, der Verkörperung des Selbst in seiner Umwelt, aufgegeben. Paech skizziert eine Gesellschaft, die sich von den „Energiesklaven“ (Paech, S. 42) weitestgehend frei macht und in „moderner Subsistenz“ (Paech, S. 46) lebt. Dazu seien insbesondere handwerkliches Geschick, Zeit und soziale Netzwerke notwendig. Aus Konsumenten würden „Prosumenten“ (Paech, S. 49), die einen Großteil ihres Konsums selbst produzieren. Die Lebensgewohnheiten meines Wandergesellen würden sich so wohl gewaltig ändern. Er müsste den ein oder anderen Vortrag absagen, um für sich selbst und sein soziales Netzwerk als Klempner, Gärtner, Koch, Haushälter, Handwerker etc. tätig zu sein. Zugleich müsste er auf seinen gewohnten materiellen Wohlstand verzichten. Doch hätte er dadurch wirklich neue Zeit gewonnen? Welchen Anreiz bietet ihm dieser Lebensstil?
Harmut Rosa hätte eine mögliche Antwort auf diese Fragen: Die Beschleunigung unserer Gesellschaft entfremdet uns zunehmend von unserer Umwelt; widmen wir uns den Dingen und Menschen, die uns umgeben, wieder intensiver, machen wir Resonanzerfahrungen, also Erfahrungen des Ergriffenseins, welche uns in Verbindung mit unserer Welt setzen. Für Rosa bedeutet Zeitwohlstand, mehr Zeit zu haben als für die Erledigung unserer Pflichten notwendig sei (S. 9). In zehn Thesen stellt er dar, wie unsere Gesellschaft auf Wachstum und Beschleunigung zu ihrer eigenen Stabilisierung angewiesen sei. Diese Steigerungslogik diene aber nicht mehr der Mehrung von Wohlstand, sondern sei notwendig, um sich im gesellschaftlichen und individuellen Wettbewerb behaupten zu können, den Status Quo zu erhalten. Es gehe um die Mehrung von Optionen, ohne dass diese noch wahrgenommen werden könnten. Die Epidemie des Burnouts sieht Rosa als eine extreme Folge dieser Entfremdungserfahrungen. Das gute Leben sei jedoch auf Resonanzerfahrungen angewiesen. Offen bleibt, wie diese geschaffen werden können. Doch fehlen dem Vater meiner Freundin wirklich Resonanzerfahrungen? Stellt nicht gerade das Arbeitsleben für viele eine der wichtigsten Resonanzräume dar?
Felix Wittmann nimmt eine ganz andere Perspektive auf Zeitwohlstand ein. Für ihn stellt Zeitwohlstand den Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Wohlstandsdebatte dar. Momentan fehle unserer Gesellschaft und der Politik schlichtweg die Zeit, gesellschaftliche Diskurse um Wohlstand zu führen. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz wurde im Zuge der Finanzkrise im Oktober 2008 innerhalb von vier Tagen verabschiedet – durchschnittlich liegen zwischen Einbringung und Verabschiedung eines Gesetztes 225 Tage. Demokratie brauche Zeit, doch diese gebe sie sich immer weniger. Zunehmend würden zentrale Entscheidungskompetenzen an „Expertengremien“ abgegeben. Selbst unseren Repräsentant*innen fehle damit häufig der Einblick in politische Entscheidungsprozesse. Wittmann fordert Zeit und Räume für demokratische Beteiligung zu schaffen, zum Beispiel durch einen halben Arbeitstag pro Woche, der jedem zur politischen Beschäftigung frei stünde. Ist es das, was meinem Professor fehlt? Die Zeit für demokratische Beteiligung? Fühlt er sich entfremdet von der Politik?
Für Lena Kirschenmann bedeutet Zeitwohlstand, nach den gesellschaftlichen Verpflichtungen auch noch dafür genügend Zeit zu haben, worauf wir Lust haben. Zahlreiche zeitsparende technische Erneuerungen sollten dafür eigentlich eine perfekte Grundlage schaffen. Doch anstatt zu einer Entschleunigung unseres Lebens beizutragen, hätten sie zu einer Verdichtung unserer Zeit geführt. Feierabend gäbe es in dieser Gesellschaft immer weniger. Dabei habe Teilzeitarbeit in unserer Gesellschaft sogar deutlich zugenommen, von 14% 1991 auf 26,7% 2010.1 Ein Viertel der Bevölkerung lebt sie also bereits, die „Teilzeitarbeit für alle“, die Frigga Haug fordert. Jedoch bedeute Teilzeitarbeit für die meisten heute noch relative Verarmung. Ohne Umverteilung sei Zeitwohlstand laut Kirschenmann demnach nicht denkbar. Nicht bloß Einkommen müssten umverteilt werden, sondern ebenso die bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten. Ob sich der Vater von meinem Wanderausflug auf eine solche Umverteilung einlassen würde?
Aber vielleicht dreht sich die Debatte um Zeitwohlstand gar nicht um ihn, sondern vielmehr um die Mutter eines anderen Freundes von mir. Sie geht nicht wandern, weil sie als Krankenpflegerin nur vier freie Tage im Monat hat und an diesen noch eine Nachbarin pflegt, um ihren Lohn aufzubessern. Teilzeitarbeit bedeutet für sie ein Leben unterhalb des Existenzminimums. Gerade hat sie viel Zeit, während sie sich von ihrem Burnout erholt.2 Für Menschen, wie sie, ist die Debatte um Zeitwohlstand zentral. Das Buch „Zeitwohlstand. Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben“ bietet einen sehr guten Aufschlag für diese Debatte und lädt zur Diskussion ein.3
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