Logo degrowth

Blog

Gerechte Verteilung und sozial-ökologischer Umbau statt pauschaler Wachstumskritik

13.05.2014

Von Sabine Reiner

Wirtschaftswachstum ist einerseits ein klar definierter Begriff der Wirtschaftswissenschaften, andererseits ein ideologischer Kampfbegriff: Wer sich nicht vorauseilend von Wachstum distanziert, gilt als Betonkopf, weil Wachstum mit Ressourcenverbrauch und -schädigung gleichgesetzt wird. Übersehen wird dabei, dass auch „Null-Wachstum“ oder sogar wirtschaftliche Schrumpfung mit zunehmender Schädigung der Umwelt verbunden sein können, dann nämlich, wenn sich Produktionsstrukturen verschieben. Deshalb kommt es darauf an, was wächst oder schrumpft.

Bei Wachstum entstehen in den Köpfen der Menschen als erstes Bilder von rauchenden Schornsteinen, lauten Fabrikhallen, von Fließbändern und von Handwerkern bei der Arbeit. Selten denkt jemand bei Wirtschaftswachstum an kleinere Kita-Gruppen, Altenpflege, die mehr Zeit für Zuwendung lässt, oder auch an die wachsende Wellness-Branche.

Im engeren ökonomischen Sinn beschreibt Wirtschaftswachstum die Veränderung des Bruttoinlandsprodukts in einem bestimmten Zeitraum, also der Summe aller für den Austausch hergestellten Güter und Dienstleistungen, gemessen in Geld. Die Wirtschaft wächst, wenn mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden, sie wächst auch, wenn viel Geld für die Folgen von Unfällen oder die Bekämpfung von Umweltschäden ausgegeben werden muss. Die Wirtschaft wächst, so verstanden, aber nicht, wenn ich zuhause Marmelade einkoche oder wenn in einem Betrieb die gleiche Anzahl von Produkten in einer kürzen Zeit hergestellt wird und dadurch alle mehr Freizeit haben.

Unbestritten ist, dass energie-, ressourcen- und emissionsintensives Wachstum an Grenzen stößt. Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt, dass materielle Bedürfnisse mit zunehmender sozialer Sicherheit und gesellschaftlichem Wohlstand in den Hintergrund treten. So zum Beispiel in gewerkschaftlichen Kämpfen für Arbeitszeitverkürzung und Einfluss auf Arbeitsinhalte. Diese Kämpfe sind aber viel schwieriger zu führen, wenn die Angst vor Arbeitsplatzverlust für viele in den Vordergrund rückt.

In einer solchen Situation befinden wir uns seit Jahren. „Die Wirtschaft“ ist vor der Krise zwar gewachsen und wächst auch jetzt wieder. Gleichzeitig wuchs und wächst aber auch die Anzahl der Menschen, die elementare Bedürfnisse – essen, wohnen, nicht frieren – nicht oder nicht ausreichend befriedigen können. Von Bedürfnissen nach Anerkennung in Gesellschaft oder Beruf, Bildung, Kultur gar nicht erst zu reden. Um solche Bedürfnisse zu befriedigen, sind Arbeitsplätze für mehr Menschen und gute Einkommen notwendig. Nötig wären Investitionen in vielen gesellschaftlichen Bereichen: in Bildung und Betreuung, Gesundheit und Pflege, Kultur und Freizeit, Umweltschutz und ökologische Modernisierung. Genau das aber schafft Wachstum.

Es mag sein, dass auch ein solches sozial-ökologisches Wachstum irgendwann an seine Grenzen stößt. Dass für die Menschen per Saldo der Wert zusätzlicher Freizeit höher ist als der dringende Bedarf an mehr privatem oder öffentlichem Konsum, an mehr Gütern, Dienstleistungen oder öffentlichen Angeboten. Es wäre schön, dieses Problem zu haben. Jetzt haben wir es nicht.

> Kommentieren Sie diesen Artikel auf dem Blog "Postwachstum"

---

Abstract zum Auftaktpodium beim Kongress „Jenseits des Wachstums“ (Mai 2011)

Share on the corporate technosphere


Our republication policy

Support us

Blog

Breaking the chains of delusion -Technological progress mythologies and the pitfalls of digitalization

By: Fabian Scheidler

Eine deutsche Version des Textes findet sich hier. When it comes to technological development, I often hear the words: What can be done will be done – sooner or later. Many people think that technological development follows a path directed by quasi-natural laws that head into one and only one direction – called “progress” – which is: to use more technology, more complex technology, more exp...

Blog

UTOPIKON - Wege und Herausforderungen in eine geldfreiere Gesellschaft

Utopikonfacebook11 1

Das Projekt- und Aktionsnetzwerk living utopia lädt am 5. November 2016 zur Utopie-Ökonomie-Konferenz (UTOPIKON) nach Berlin ein. Geplant sind 300 Teilnehmer*innen, fünf Keynotes, zehn Workshops und ein inspirierendes Rahmenprogramm. Als Referent*innen haben bisher unter anderem Silke Helfrich, Friederike Habermann, Niko Paech und Gerrit von Jorck zugesagt. Die Idee: Die UTOPIKON möchte zum ...

Blog

Eine glitzernde Bewegung? Workshop „Postwachstum – sozial-ökologische Perspektiven für linke Politik“

von Jana Holz und Elena Hofmann Was hat die Degrowth-Konferenz gebracht? Und wie geht es weiter? – Eine erste Gelegenheit zur Auswertung und zum Ausblick bot die Rosa-Luxemburg Stiftung Berlin mittels eines Workshops „Postwachstum – sozial-ökologische Perspektiven für linke Politik“ am 30/31. Oktober. Die Stiftung lud zum Austausch und zur Vernetzung Interessierte aus den eigenen Reihen und de...